Spanische Grippe 1918/19: der Tod in den «grünen Alpgründen»

  03.04.2020 Region, Saanen

Vor 102 Jahren wütete auf der ganzen Welt die schlimmste Influenzapandemie aller Zeiten, die sogenannte Spanische Grippe. Wir gehen den Fragen auf den Grund, was zu dieser entsetzlichen Katastrophe führte, welches die Folgen für das Saanenland waren und wieso sie kaum mit der aktuellen Coronavirus-Pandemie vergleichbar ist.

MARTIN GURTNER-DUPERREX
«Es ist ein Glück, dass hier im oberen Tal, entgegen den umlaufenden wilden Gerüchten, die Influenza nur vereinzelt auftritt. Der Aufenthalt in den verhältnismässig isolierten Hotels der grünen Alpgründe, wie sie das Saanenland so reichlich bietet, kann ja städtischen Verhältnissen gegenüber gewiss als Schutz gegen Ansteckungsgefahr gelten», schrieb der «Bund» noch im Sommer 1918 zu Beginn der Spanischen Grippe, der verheerendsten Grippewelle aller Zeiten, die weltweit Millionen Todesopfer fordern sollte, zuversichtlich. Dies sollte sich als tragische Fehleinschätzung herausstellen, denn gerade das Saanenland wurde von der Pandemie in schrecklicher Weise heimgesucht. Was war passiert?

Nicht aus Spanien
Wir befinden uns im Frühling 1918, die Endphase des Ersten Weltkriegs ist in vollem Gang. Das Grippevirus, das aufgrund erster Berichte von Infizierten in Spanien als «Spanische Grippe» bezeichnet wird, hatte seinen Ursprung sehr wahrscheinlich in einem Militärcamp in den USA, wo sich amerikanische Soldaten auf ihren Einsatz in Europa vorbereiteten und dieses dann an die Westfront des Kriegsschauplatzes in Frankreich verschleppten. Aber auch Fernost, woher die meisten jährlichen Grippeepidemien stammen, ist als Herkunftsort nicht auszuschliessen. Wilde Gerüchte und Verschwörungstheorien, wie zum Beispiel, dass die deutsche Armee das Virus als Biowaffe eingesetzt hätte, machen ebenfalls die Runde …

Sicher ist, dass sich die Influenza ab Sommer 1918 auf den Schlachtfeldern Europas rasend schnell verbreitet und mit voller Wucht auf eine von Krieg und Unterernährung geschwächte Zivilbevölkerung trifft. Mithilfe des Dampfschiffes und der Eisenbahn tritt die Krankheit nun in drei Wellen ihren makabren Siegeszug um den ganzen Globus an. Warum der Erreger ab Herbst 1918, zu Beginn der zweiten Welle, zum Killervirus mutiert, welcher die befallenen Personen dermassen schwächt, dass sie schliesslich qualvoll erstickend an einer Lungenentzündung sterben, ist bis heute nicht geklärt.

Ein leichtes Spiel
Obwohl die Schweiz nicht in die Kriegshandlungen verwickelt ist, leidet im Frühling 2018 auch ein Grossteil der Bevölkerung wegen der Misere, der Lebensmittelrationierung und Missernten an Hunger und Unterernährung. Die soziale Lage ist angespannt, Streikbewegungen unter Arbeitern sollten schliesslich im November 2018 mit der Niederschlagung des Generalstreiks blutig enden. Als die Spanische Grippe ins Land sickert, wohl durch Internierte und Kriegsverwundetentransporte, hat sie ein leichtes Spiel. Betroffen sind zu Beginn vor allem Rekrutenschulen und Grenzbesetzungstruppen. Junge, gesunde Menschen zwischen 20 und 40 Jahren sind besonders auf den schrecklichen Erreger anfällig und sterben häufig innert kurzer Zeit. 60 Prozent der Erkrankten sind Männer, 40 Prozent Frauen. Da das Militär medizinisches Personal einzieht, fehlt dieses nun im zivilen Bereich. Wäsche, Pflegematerial und sogar Betten werden Mangelware. Das Schweizerische Rote Kreuz richtet militärische und zivile Notspitäler in Schulen und Kindergärten ein und mobilisiert freiwilliges Pflegepersonal.

Da es zu der Zeit weder Grippeimpfung noch Antibiotika gibt, verschreiben die Ärzte Aspirin sowie Chinin, welches sich gegen Malaria bewährt hat, und greifen für Schmerzlinderung zu Morphium und Heroin. Vergeblich, denn sie können so die Verbreitung des mörderischen Virus, dessen Form unbekannt ist, nicht aufhalten, obwohl auch Social Distancing, Hygienemassnahmen wie Händewaschen und Gesichtsmasken sowie Handschuhe für medizinisches Personal schon bekannt sind.

Furchtbare Ernte im Saanenland
«In ganz Europa breitet sich eine bösartige Grippeepidemie aus», schreibt Dr. Robert Marti-Wehren bereits für Anfang Juli 1918 in der von ihm zusammengestellten «Saaner Chronik», die am 23. Februar 2018 im «Anzeiger von Saanen» erschien. Der Gemeinderat von Saanen habe Gottesdienste, Kinderlehre sowie öffentliche Leichengänge verboten, und: «Der Regierungsrat untersagt wegen der zunehmenden Grippe alle Theateraufführungen, Kinovorstellungen, Tanzanlässe, Volksfeste …» Am 12. November werden Besitzer von Milchtieren dringend aufgefordert, mehr Milch abzuliefern, damit jedermann seine Ration bekomme …

Auch die in der Altjahrsbeilage 2009 in dieser Zeitung veröffentlichten Beiträge aus dem «Anzeiger von Saanen» 1918/19 über die Grippepandemie, zusammengestellt von Benz Hauswirth und Brigitte Leuenberger, ergeben ein düsteres Bild – am 10. Juli 1918 sogar mit einer Prise von schwarzem Humor: «Streik und die allen spanisch vorkommende Grippe sind an der Tagesordnung.» Bei den englischen Internierten in Château-d’Oex habe die Krankheit besonders gewütet und zahlreiche Todesopfer gefordert, wird für den 17. Juli vermerkt. Am 14. August hielt man die Grippe für verloschen und die Sekundarschule startete ihr Herbstquartal, aber: «Heute liegen wieder 14 Schüler, ein Lehrer und dessen ganze Familie grippekrank darnieder.» Am 25. September wird gewarnt, dass immer und immer wieder die Grippe aufflackere. Erst am 11. Juni 2019 dann das grosse Aufatmen: «Der Bundesrat hat die vom Bunde getroffenen Massnahmen gegen die Influenza aufgehoben im Hinblick darauf, dass die Epidemie zurzeit am Erlöschen erscheint.»

Trotz aller Massnahmen fährt das Killervirus im Saanenland eine furchtbare Ernte ein: Gemäss derselben Autoren starben laut Totenregister 1918 im Saanenland 127 Menschen (wovon 32 infolge Grippe mit Lungenentzündung) und 1919 noch einmal 112, was praktisch eine Verdoppelung der Todesfälle im Vergleich zu den Jahren zuvor bedeutet.

Horrorzahlen und Lichtschimmer
Die Theorie vom Schutz der abgeschiedenen «grünen Alpgründe» bewahrheitete sich also nicht, weil sich die aggressive Grippepandemie durch nichts aufhalten liess und gerade Randgebiete und Bergkantone wegen der geringen medizinischen Versorgung besonders hohe Sterberaten zu verzeichnen hatten (siehe Kasten). Die Opferzahlen waren aber auch landesweit – gerade im Vergleich zum Coronavirus – horrend hoch: In der ganzen Schweiz waren knapp 24’500 Todesopfer zu beklagen, im Kanton Bern allein über 4000. Über zwei Millionen Menschen, die Hälfte der damaligen Schweizer Bevölkerung, erkrankten gemäss heutiger Schätzungen. Weltweit starben zwischen 20 bis 50 Millionen Menschen, einige Experten gehen sogar von bis zu 100 Millionen aus. Europa zählte 2,3 Millionen Grippetote, Deutschland 350’000, Frankreich 400\\'000 … Die Influenza tötete mehr Menschen als der Erste und Zweite Weltkrieg zusammen.

Im Vergleich dazu ist die Covid-19-Krise momentan geradezu ein Kinderspiel und wird es hoffentlich auch bleiben – trotz des verursachten menschlichen Leids und wirtschaftlichen Schadens, die global historische Ausmasse angenommen haben. Und es gibt einen zusätzlichen Lichtschimmer: Nachdem der Grippespuk sang- und klanglos verschwunden war, erholte sich die Weltwirtschaft sehr schnell und florierte gerade in den Zwanzigerjahren prächtig – bis die nächsten Krise kam.

Quellen: Bundesamt für Statistik; Schweizerisches Rotes Kreuz; «Berner Zeitung», «Anzeiger von Saanen», «Saaner Chronik – vor 100 Jahren»; Buchprojekt «Entwicklung des Sports im Saanenland von 1896 bis 2012», Eugen Dornbierer-Hauswirth.


HOHE STERBERATE FÜR DEN BEZIRK SAANEN

Zunahme der Zahl der Verstorbenen 1918 aufgrund der Spanischen Grippe im Vergleich zu den Jahren während des Ersten Weltkriegs:

Huttwil: plus 27%
Burgdorf: plus 37%
Thun: plus 49%
Amstbezirk Bern: plus 57%
Biel: plus 74%
Amtsbezirk Saanen: plus 92%
(d.h. fast doppeltso viele)
Kanton Bern über 4000 Tote, Zürich 2500, Waadt 2000

Zahlen gemäss Bundesamt für Statistik und Jahrbuch des Oberaargaus 2018, Sonderband (zitiert aus der Berner Zeitung, 13. März 2018)


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