Wandergrüsse aus Chile

  03.04.2020 Serie

Martina Haller und Ivo Paroni aus Saanen waren im Abenteuerfieber. Sie starteten am 9. November im chilenischen Santiago und wanderten südwärts. Die Route führte erst entlang des Greater Patagonian Trails. Danach reisten sie weiter südwärts. Vor einem zehntägigen Trekking über die Grenze nach Argentinien mussten sie die Reise aufgrund der Corona-Krise abbrechen. Dank einem guten Timing, viel Glück und tollen Leuten im Umfeld sind sie am 19. März wohlbehalten in der Schweiz angekommen.

Easy, peacy, crazy
Wie es ist, von der Wildnis in die Zivilisation zu wechseln, erfuhren Martina Haller und Ivo Paroni in Puerto Montt. Dort mieteten sie ein Auto, um die nahegelegene Insel Chiloé zu erkunden. «Statt zwei Füsse hatten wir plötzlich vier Räder», schmunzelt Martina Haller. Was früher eine Tageswanderung bedeutete, war plötzlich in einer viertel Stunde zu schaffen. «Das eröffnete neue Möglichkeiten!», lacht sie. Chiloé sei eine sehr grosse Insel mit eigenem Klima, eigener Esskultur und Mentalität. «Alle sind easy-peacy-crazy drauf», sagt Ivo Paroni. Diese Woche Erholung hat den beiden Trekkingabenteurern gut gefallen.

Noch schneller
Danach flogen Sie in den Süden, weil dort weitere spannende Trekkings warteten. In Coyhaique angekommen, erreichte sie die Meldung, dass die USA die Grenzen für Reisende aus Europa schliessen. «Das hat uns nachdenklich gemacht. Wir haben uns gefragt, was da auf uns zukommt», sagt Paroni. Deshalb hätten sie erstmals das Reisebüro in Gstaad kontaktiert und gefragt, was es uns rate. Ivo Paroni: «Wir hatten nicht überall Empfang, deshalb lasen wir die E-Mail-Antwort erst nach einem viertägigen wunderschönen Trekking in der Cordillera Castillo. Was wir dort gesehen haben, so stellt man sich Patagonien vor: windig, rauh, blau leuchtende Gletscher, türkisblaue Lagunen und Eisblöcke.» Nach dem Ausflug also die Antwort aus der Schweiz: Der Reiseagent sei zwar kein Prophet, aber er empfehle, entweder sofort nach Hause zu kommen oder nach Ostern weiterzuschauen.

Es könne dann aber sein, dass sie im zweiten Fall länger in Chile bleiben müssten. Ivo Paroni: «Wir haben es besprochen und sind zum Schluss gekommen, dass es doch wohl nicht so schlimm sein könne.» Deshalb entschied das Paar, in den Süden zu reisen, wo sie das nächste Zehntagestrekking in Angriff nehmen wollte. «Von der Pandemie war in Chile zu diesem Zeitpunkt nichts zu spüren, die Einheimischen waren sehr ruhig.» Die Reise führte sie also nach Villa O’Higgins. «Dort sind wir am Freitag mit dem Bus angekommen. Am Samstag haben wir uns nach der Weiterreise per Fähre nach Argentinien erkundigt», erinnert sich Haller. Dadurch, dass das Wetter windig war und die Fähre deshalb ausfiehl, ruhte das Paar. Am Sonntag aber sollte es weitergehen. Sie holten weitere Erkundigungen ein und genossen in einem Restaurant ein Raclette, das dort lustigerweise angeboten wurde. Plötzlich kam unter den Touristen das Gerücht auf, dass die Fähre nicht mehr fahre, weil Corona inzwischen in Chile angekommen sei. Bereits eine Stunde später bewahrheitete es sich. Etwas weiter nördlicher sei zudem ein Kreuzfahrtschiff mit Coronavirus-Passagieren angekommen. «Wir befürchteten, dass die ganze Gegend grossflächig abgeriegelt wird.»

50 Stunden bis in die Schweiz
Die Neuigkeiten liessen die Abenteurer zweifeln. «Plötzlich waren wir uns nicht mehr sicher, ob wir die richtige Entscheidung getroffen hatten, als wir in den Süden gereist waren», schaut Paroni zurück. Deshalb reisten sie so schnell wie möglich vom populationsarmen Süden in den belebteren Norden. «Im ersten Moment haben wir noch nicht an die Rückkehr nach Gstaad gedacht. Wir hatten einfach das Gefühl, dass wir im Norden mehr Möglichkeiten hätten.» Trotzdem verständigten sie ihren Reiseagenten und die Ereignisse begannen sich zu überschlagen. Der Flug wurde von Ende April auf Freitag, 20. März vorverschoben. «Weil der Bus nach Fahrplan erst am Dienstag fuhr, haben wir mit ein paar anderen Reisenden einen Privattransport für Montag organisiert.» So sassen sie zu sechst mit viel Gepäck und einem Fahrrad auf einem Pickup. Der Fahrer sei wenn immer möglich in einem Affentempo über die Strassen gerast. Sieben Stunden später kamen die Touristen wohlbehalten in Cochrane an, wo sie zwei Tage zuvor gestartet waren. «Danach buchten wir einen Bus und einen Flug nach Santiago de Chile. Kurze Zeit später erfuhren wir, dass dies der zweitletzte Bus vor dem Shutdown war. «Das hat uns zu spüren gegeben, dass wir uns mit der Heimreise beeilen mussten.

Europäer als Sündenböcke
Die Stimmung im Land war inzwischen gekippt. «Die Europäer wurden plötzlich wie Sündenböcke für das Coronavirus behandelt», sagt der Abenteurer. Martina Haller: «Uns wurden plötzlich die Türen vor den Nasen zugeschlagen und man hat sich mittels Pulli vor den Atemwegen vor uns geschützt.» Auch die Busfahrer hätten sich plötzlich mündlich versichert, dass sich unter den Reisenden keine Kranken befanden. Erste Strassensperren wurden errichtet. «Während wir in den Norden fuhren, rief der Bundesrat die Reisenden zur Rückkehr in die Schweiz auf», erinnert sich Martina Haller. Glücklicherweise tätigte das Paar noch einen Anruf in die Schweizer Botschaft, wo ihnen mitgeteilt wurde, dass der Flugbetrieb bereits um Mitternacht eingestellt würde. Damit wurde den beiden Schweizern bewusst, dass der gebuchte Flug am Freitag nicht mehr abheben würde. «Sofort kontaktierten wir unseren Gstaader Reiseagenten und fragten, ob er eine sofortige Rückkehr organisieren könne. «Wie er das gemacht hat, wissen wir nicht. Er hat wohl gezaubert, denn zu dieser Zeit hatten Private keine Chance mehr, die Airlines zu kontaktiern.»

Angespannte Lage
Trotz der Gewissheit, dass sie zwei Plätze im Flugzeug hatten, blieb die Lage sehr angespannt. «Unser Bus hielt, wie in Chile üblich, irgendwo an einer Kreuzung 16 Kilometer vom Flughafen entfernt.» Ob und wie sie nun zum Flughafen kämen, blieb erst ungewiss, aber glücklicherweise hielt schliesslich ein Shuttlebus. «Wir hatten grosses Glück, dass wir es rechtzeitig zum Flughafen schafften.» Das Abenteuer ging aber auch dort weiter, weil der Flug Verspätung hatte. In Santiago war der Anschlussflug geplant. Martina Haller und ihr Partner hatten dort nur gerade eine knappe Stunde Zeit. Ivo Paroni: «Martina eilte zum Check-in, wo sie um Aufschub bat.» Derweilen wartete Ivo Paroni bei der Gepäckausgabe auf die zwei Rucksäcke. «Das waren die längsten Minuten in meinem Leben, dort zu stehen und zu hoffen, dass Ivo kommt», sagt sie ergriffen. Dann sei er mit wehenden Fahnen herbeigeeilt. Check-in, Passkontrolle, Sicherheitscheck, zum Gate rennen und den Flieger besteigen, alles ging grad so auf. Der Flieger brachte sie nach Houston/USA, von wo sie einen Anschlussflug nach Washington DC nahmen. «Niemand konnte uns garantieren, ob wir von dort in die Schweiz weiterreisen könnten», denn die Flüge aus Europa waren zumindest für Europäer bereits eingestellt. «Wir hatten aber Vertrauen, dass die Luftbrücke aufrecht erhalten bleibt, damit die unwillkommenen Ausländer aus der USA ausreisen konnten», sagt Martina Haller ironisch. Und so war es: In einem halbleeren Jet flogen die beiden nach Zürich. «Wir kamen in einem Land an, das wir vorher anders kannten.» Statt mit Händedruck wurden wir mit Social Distancing und einem Cervelat begrüsst. Paroni fügt an: «Eigentlich war ich bisher als Berner nicht so gerne in Zürich. Dieses Mal aber hatte ich grosse Freude.» In einem ungewohnt leeren Zug fuhren sie nach Spiez und auf verlassenen Strassen zurück ins Saanenland. «Wir kamen in Saanen nach 50 Stunden Reisen völlig erschöpft, übel riechend und glücklich an.»

Wehmut
Das abrupte Ende dieser Reise sei nicht so einfach anzunehmen. «Wir konnten uns von nichts und niemandem verabschieden und fühlen uns momentan ein bisschen entwurzelt», gesteht Martina Haller. Aber jetzt sei es halt einfach so. «Wir sind mit einem blauen Auge nach Hause gekommen.» Viele Reisebekanntschaften seien in Chile stecken geblieben und hätten erst zehn Tage später ausreisen können.

BLANCA BURRI


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