«Baustelle» Welt

  29.05.2020 Gstaad

Pfingsten ist für viele Menschen das jährliche Treffen im Stau auf dem Weg ins verlängerte Weekend vor dem Gotthardtunnel. Das war vor Corona! Dieses Jahr wird dies coronabedingt anders sein. Das bietet gleich die Gelegenheit, der Frage nachzugehen: Was ist denn eigentlich Pfingsten? Aus der Bibel wissen wir, dass 50 Tage nach Ostern die krisengeschüttelte Jüngerschar den Heiligen Geist an diesem Tag empfangen hat. Dieses Faktum hat dazu geführt, dass aus verängstigten Jünger*innen mutige Glaubenszeugen*innen wurden, die sich aufmachten, die Frohbotschaft Jesu Christi auf der ganzen Welt und in allen Sprachen zu verkünden. Eine solche «himmlische» Ermutigung – sprich solch eine Geistsendung wie damals – brauchen auch wir heute inmitten der Corona-Pandemie.

Zu Beginn des Lockdowns habe ich in der Ausgabe vom 17. März im «Anzeiger von Saanen» diesen kurzen Leserbrief veröffentlicht: «Was für ein historischer Moment erlebt da unsere finanz- und leistungsorientierte, reiseund shoppingfreudige, an Spitzenmedizin gewohnte Spass- und Fun-Gesellschaft! Die wohlstandsgesättigte Gesellschaft kommt an ihre Grenzen, muss merken, wie nichtig angesichts eines unsichtbaren klitzekleinen Virus der moderne, intellektuelle Mensch auch heute noch eigentlich ist. Zwingt ein Virus die Gesellschaft, umzudenken?» Damit wollte ich darauf aufmerksam machen, dass ein Weitermachen wie bisher nun nicht mehr möglich ist. Bereits der eingangs erwähnte Satz zu Pfingsten beinhaltet so viele «heisse Eisen» beziehungsweise «Baustellen», die coronabedingt zum Nachdenken einladen: Umweltschutz, verlängerte Wochenendausflüge und Massentourismus …

Was vor Corona einfach selbstverständlich war, ist es nun auf einen Schlag nicht mehr – mit allen schwerwiegenden Konsequenzen, die verschiedene Branchen, besonders auch den Tourismus, brutal treffen. Aber sind Krisen nicht auch immer Chancen? Da kommt Pfingsten gerade recht. Denn nicht nur die hartgetroffenen Branchen, sondern alle Menschen, die unter den Folgen der Pandemie beziehungsweise des Lockdowns leiden, brauchen jetzt gute «Geistes»-Einfälle.

Der allen am 16. März verordnete staatliche Ausstieg aus dem Hamsterrad des täglichen «weiter so» verstehen viele heute als Gelegenheit, innezuhalten, um über vermeintliche «Notwendigkeiten» nachzudenken. Der staatlich verordnete Lockdown hat zur Offenlegung mancher Schwachstellen in Politik und Wirtschaft und zur Besinnung auf Wesentliches geführt.

Mit «Moralin» ist aber niemandem gedient. Was es jetzt braucht, ist das, was Pfingsten schenkt: den Geist der Wahrheit und der Nachhaltigkeit. Pfingsten will in dieser Zeit der ersten Lockerungen einladen, nicht einfach zurückzukehren in den Modus «weiter so!». Nein, vielmehr will Pfingsten herausfordern, sich folgenden politisch-wirtschaftlichen, ökologischen, tourismustechnischen und sozialen Fragen zu stellen:
– Diese Krise hat das Parlament völlig überrascht und handlungsunfähig gemacht (Sessionsabbruch/Suche eines neuen Austragungsortes). Darum war es richtig und wichtig, dass damals der Bundesrat das Zepter in die Hand genommen hat. Was wird in Bern künftig «geisterfüllt» dafür getan, dass bei einer nächsten Krise (nach der Krise ist immer auch vor der nächsten Krise) ein Notfallparlament funktioniert?
– Dem Wirtschaftssektor hat Corona aufgezeigt, wie fragil die gesamte Weltwirtschaftssituation ist. Welche Konsequenzen werden «geisterfüllt» die erlebten Folgen der Auslagerung von Industriezweigen, Billigproduktion im kostengünstigen Ausland und der Verzicht auf Lagerhaltung (Stichwort: Mund-Nasen-Schutzmasken) für den Wirtschaftsstandort Schweiz haben?
– Im Gesundheitswesen soll diese Frage erlaubt sein: Um das Worst-Case-Szenario überfüllter Spitäler zu vermeiden, hat der Bundesrat den Lockdown verhängt. Hintergrund war das Fehlen ausreichender Beatmungsgeräte im besten und teuersten Gesundheitswesen der Welt. Was gedenkt man diesbezüglich «geisterfüllt» zu tun?
– Corona hat Armut in der Schweiz offengelegt (Warteschlangen vor Gassenküchen z.B. in Genf). Gleichzeitig ist die Armut weltweit bewusster geworden. Unter Ungerechtigkeit und vor allem Armut leiden Milliarden Menschen, also weit mehr als am Coronavirus. Was wird die Weltgemeinschaft «geisterfüllt» tun, um z.B. der Armut, dem Klimawandel und deren Folge, den weltweiten Flüchtlingsströmen vor allem nach Europa, nachhaltig zu begegnen?
– Während des Lockdowns waren die Kirchen von staatlicher Seite völlig ausgeblendet. Da aber der Tod plötzlich allgegenwärtig war, stellt sich die Frage, wie die Kirchen «geisterfüllt» moderne Menschen dazu bringen können, sich eine Spiritualität des Memento mori (denk daran, dass du einmal sterben wirst) anzueignen. Das Memento mori will nicht die Freude am Leben nehmen, sondern vielmehr ermutigen, das eigene Sterben und den Tod nicht auszublenden, um bewusster zu leben.
Fragen über Fragen. Eines sollte allen – gläubig oder nicht – klar sein: Ein «weiter wie bisher» ist nicht denkbar. Möge Pfingsten der «Baustelle» Welt zugutekommen, sodass Verantwortliche in allen Branchen zusammen mit Menschen guten Willens zukunftsfähige und nachhaltige Lösungen suchen und gemeinsame finden – und dies eben, wie Pfingsten hoffen lässt: «geisterfüllt».

ALEXANDER PASALIDI, RÖM-KATH. PFARRER GSTAAD


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote