Christian

  26.05.2020 Leserbeiträge

Schreiben Sie gerne? Wir veröffentlichen Kurzgeschichten von Leserinnen und Lesern, die einen Bezug zum Saanenland haben oder deren Geschichten im Saanenland spielen. Den Anfang macht Blanca Burri mit «Christian».

Christian joggte über das Moos, entlang des Flüsschens, durch hohe Maisfelder über die Brücke und von dort zurück ins Dorf. Kurz vor den ersten Einfamilienhäusern rannte er an einem stattlicher Hof mit Laden vorbei. Manchmal hielt Christian an, um etwas Gemüse für das Abendessen zu kaufen – oder Beeren, die mochte er besonders gern. An diesem Tag brauchte er nichts, trotzdem drehte er wie gewohnt den Kopf zur Holzbank neben der Eingangstür. Er wollte die Hand zum Grüssen heben, als er bemerkte, dass die Bank leer war.

Zu Hause stellte er sich erst unter die Dusche, dann setzte er sich an den Küchentisch. Während er wartete bis das Nudelwasser kochte, blätterte er in der Zeitung. Sein Blick fiel auf die Todesanzeigen. Er erkannte den Charakterkopf sofort. Christian Mühlentaler, geboren am 13. Januar 1933, verstorben am 16. Juni 2019. Christians Herz zog sich zusammen. Wie konnte das sein? Noch vor drei Tagen hatte er ihn gesehen und jetzt …

Christian war vor sieben Jahren ins Dorf gezogen. Es hatte ihn an das Dorf seiner Kindheit erinnert, er hatte sich sofort wohlgefühlt. Er mochte es, im Dorfladen beim Namen genannt zu werden, im Turnverein zu schwitzen und im Schützenverein sein Wissen einzubringen. Immer montags, mittwochs und samstags lief er eine Runde. Dabei hatte er Christian kennengelernt. Zum ersten Mal bemerkte er ihn beim Ablesen von Kirschen auf einer Leiter stehend. Später beobachtete er, wie er die Kühe in den Stall trieb oder Äpfel auflas. Im Winter brachte er für gewöhnlich die Eier vom Hühnerstall ins Haus. Christian sprach nie mit Christian, aber sie grüssten sich immer, ja, das schien beiden wichtig gewesen zu sein.

Lange hatte Christian den Namen seines Namensvetters nicht gekannt. Erst als er begonnen hatte, im Hofladen einzukaufen, änderte sich das. Es stellte sich heraus, dass die Bäuerin die Schwiegertochter von Christian war. Das bemerkte Christian, als sie ihm einmal erzählte, dass sie sich Sorgen um ihren Schwiegervater mache, der bereits über 80 Jahre alt sei. «Er verbringt seine Tage im Sommer wie im Winter draussen. Ich hoffe, dass er nicht plötzlich von der Leiter fällt oder auf dem Eis ausrutscht.» Wenn sie ihrem Schwiegervater von den Bedenken erzähle, lache er sie aus. «Mir passiert schon nichts», habe er geantwortet.

Christian joggte dreimal wöchentlich seine Runde, grüsste Christian und kaufte bei Mühlentalers ein, bis er eines Tages die Leiter sah, die halb auf der Strasse lag. Und daneben einen Körper. Es war Christian. Sofort leistete er Erste Hilfe und informierte die Ambulanz, später auch Frau Mühlentaler. Nach diesem Unfall sah Christian den alten Mann lange nicht mehr. Da er nicht aufdringlich erscheinen wollte, kaufte er nicht mehr im Hofladen ein. An einem warmen Frühlingstag sah er den Alten wieder. Er sass auf der Holzbank neben der Eingangstür zum Hofladen. Seither grüssten sie sich wie zuvor und Christian kaufte im Hofladen ein.

Nun würde die Bank leer bleiben.

Christian suchte in den nächsten Tagen nach einer alternativen Jogging-Strecke. Er beschloss, das Moos in die andere Richtung zu umrunden, am Kartoffelfeld vorbei, entlang der Hecke über das Flüsschen, zurück bis zum Bahnhof, über die Strasse in sein Wohnquartier. Da gab es keinen Hof und auch keinen Hofladen. Aber es gab auch keinen Christian.

Ein paar Wochen später, Christian sass an seinem Küchentisch und blätterte in der Zeitung, sah er den Nachruf von Christian Mühlentaler. Er las ihn aufmerksam durch. Da stand, dass Christian zwölf Geschwister gehabt hatte. Zwei davon verlor er bereits im Kindesalter. Er hätte gerne eine Lehre als Zimmermann gemacht. Da sein Vater ihn als Ältesten auf dem Hof haben wollte, ging das nicht. Der Vater verstarb schon früh und Christian übernahm die gesamte Verantwortung, auch für seine jüngeren Geschwister. Er schickte sich in die Aufgabe und meisterte sie dank Marie gut, seiner lieben Frau, die er in jungen Jahren kennen- und lieben gelernt hatte. Mit ihr teilte er eine besondere Leidenschaft: die Trachtengruppe. Beide lebten für den Verein, erst als Tanzpaar, danach im Vorstand. Politisch engagierte sich Christian bei einer bürgerlichen Partei, später wurde er Gemeinderat. Er wurde als Mensch beschrieben, der anderen gerne half und sich nicht scheute, Verantwortung zu übernehmen.

Als Christian die Zeilen las, versuchte er, die beschriebenen Charakterzüge mit dem Mann in Verbindung zu bringen, den er sieben Jahre gegrüsst hatte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er Christian kein einziges Mal gefragt hatte, wie es ihm geht oder was er in seinem langen Leben erlebt hat.

Viel hätte er zu erzählen gehabt, der Christian.

Plötzlich verspürte Christian den Wunsch, das Grab des Verstorbenen zu besuchen. Die Erde war noch frisch, die Blumen in den Töpfen rund ums Grab aber verwelkten. Die Lettern auf den Trauerschleifen bestätigten das Bild, das der Lebenslauf gezeichnet hatte. Christian senkte den Kopf für einen Moment. Dann machte er sich auf den Heimweg.

Er nahm sich vor, wieder über das Moos, entlang des Flüsschens, durch die Maisfelder über die Brücke und von dort zurück ins Dorf zu rennen. Kurz vor den ersten Einfamilienhäusern würde er am stattlichen Hof mit Laden vorbeirennen und anhalten. Im Laden würde er etwas Gemüse für das Abendessen einkaufen und vielleicht würde er Frau Mühlentaler einmal fragen, wie es ihr geht.

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ZUR AUTORIN

Blanca Burri ist Journalistin beim «Anzeiger von Saanen», Gastautorin bei verschiedenen Zeitungen und Autorin. Ihre Kurzgeschichten wurden in der Anthologie «Grenzgänge», erschienen im Verlag Edition Buchfink und «Täxtzit», Band 11, veröffentlicht. Sie ist Mutter zweier Kinder und lebt in Saanen.


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