RANDNOTIZ

  08.05.2020 Leserbeitrag

Die neue Höflichkeit

SONJA WOLF
«Du Mum ... eigentlich ist doch jetzt alles umgekehrt: Je unsozialer man sich verhält, desto höflicher wirkt man!», stellte mein 19-jähriger Sohn nachdenklich fest. Und ich wusste genau, was er meinte. Wir waren im Supermarkt und die Leute gingen sich weiträumig aus dem Weg oder blickten uns strafend an, wenn wir uns in den Gängen kreuzten. Auch im Aufzug fuhren wir lieber gleich los, statt für das nette Pärchen mit Maske, das sich mit seinem Einkaufswagen näherte, die Türe schnell am Schliessen zu hindern. Hätten wir vor zwei Monaten zweifelsohne noch getan. Aber Distanz ist nun mal das Geheimnis der Infektionseindämmung und je distanzierter, desto respektvoller und höflicher verhalten wir uns, so schwer mir das persönlich auch fällt. (Ich bin von Natur aus der absolut distanzlose «Knuddeltyp»!)

Und zu Hause in den eigenen vier Wänden geht die Eigenbrötlerei direkt weiter: Wir lassen unsere Kinder stundenlang gamen und Videos schauen und hängen auch selber viele Stunden vor diversen Bildschirmen ab, und zwar beileibe nicht immer, um zu arbeiten. Waren wir vor Corona nicht irgendwie sozialer? Aber das Hilfsmittel Internet und selbst sein Überkonsum gehört jetzt auch zum guten Ton. Auch Alain Berset hat sicher seine helle Freude an uns – so schön, wie wir gerade alle zu Hause bleiben mit Homeschooling, Homeoffice und Homekonferenzen mit Freunden und Familie.

Und wie schnell wir uns an die neue Distanz gewöhnt haben! Eine Sendung im Fernsehen, in der eine Reporterin mit einem kurzstieligen Mikrofon Schulter an Schulter mit dem Interviewten durch eine belebte Hafenstadt schlendert, oder eine Gameshow mit lustig gefüllten Zuschauerrängen identifizieren wir sofort als Aufzeichnung von vor März 2020. Und dabei ertappe ich mich, wie ich ungläubig denke: «Wow, eine ganz andere Welt!» Dabei ist es wirklich noch nicht so lange her!

Aber ok, sich physisch von anderen Menschen fernzuhalten, ist nun mal jetzt nötig, auch wenn es mir immer noch kühl und unhöflich vorkommt – «distanziert» eben im doppelten Sinne! Aber auch ich Knuddler werde mich wohl oder übel daran gewöhnen und eines Tages sicher wieder mein Häuschen verlassen, um meine Verwandten und Freunde in der Schweiz, in Deutschland, Frankreich, in der Türkei oder sonst wo auf der Welt spontan zu besuchen und distanzlos unhöflich zu knuddeln!

[email protected]


Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote