Die Kunst des Erzählens

  26.06.2020 Kirche

«Der Mensch ist von Natur aus ein Geschichten erzählendes Tier.» (Umberto Ecco)

Liebe Leserin, liebe Leser

Als ich diesen Text geschrieben habe, ist die Welt verhangen und regnerisch. Es hat stark abgekühlt und die Lust, hinauszugehen ist verschwindend klein. «E richtiga Fürgrüebler», wie man in Mundart sagt. Ein Tag, an dem es am schönsten ist, ein Feuerchen anzuzünden und sich in eine warme Wolldecke zu kuscheln. Und was gibt es Schöneres, wenn uns in solchen Momenten jemand eine gute Geschichte erzählt. Kuschelig warm … und Bilder steigen vor unserem inneren Auge auf.

Wenn Sie in letzter Zeit unsere Audiogottesdienste gehört haben, ist Ihnen wahrscheinlich aufgefallen, dass ich für jeden meiner Gottesdienste eine biblische Geschichte zum Erzählen aufgearbeitet habe.

Vielleicht konnten Sie es – wie ich – mit geschlossenen Augen geniessen, wenn Sandra Burri diese jeweils erzählte. Vielleicht haben Sie sich aber auch gedacht: «Was soll denn das? Ich will hier einen Gottesdienst hören und nicht wie eine Sonntagsschülerin eine Geschichte erzählt bekommen.»

Ich weiss, ich breche da etwas mit einer reformierten Tradition. Bei uns hat die Predigt einen hohen Stellenwert – die Auslegung des biblischen Wortes.

Mir ist aber in meiner kurzen Zeit im Beruf oft aufgefallen, dass heute gar nicht mehr bekannt ist, was denn in dieser Bibel steht. Darum versuche ich, den Menschen die biblischen Geschichten wieder zurückzuschenken, indem ich sie erzähle oder erzählen lasse.

Wir verfügen in diesem vielfältigen und wunderbaren Buch über einen unglaublichen Schatz an gewachsenen, uralten Geschichten, die uns über Generationen überliefert worden sind. Geschichten, die das Leben schrieb. Geschichten über Menschen, die versucht haben, mit Gott ihren Weg zu gehen.

Ja, liebe Leserin, lieber Leser

Seit es Menschen gibt, erzählen wir uns Geschichten. Es ist die älteste Form der Informationsweitergabe. Wir stehen in einer langen Tradition von Geschichtenerzählern.

Bereits lange bevor das Alte Testament schriftlich festgehalten wurde, waren die Geschichten über Jahrhunderte mündlich von Generation zu Generation weitergegeben worden. Eine Tradition, die wir nur etwas vergessen haben, aber die zu pflegen es sich lohnt. Denn: Geschichten zu erzählen kommt nie aus der Mode. Nicht nur Kinder, auch wir – schon etwas länger den Kinderschuhen Entwachsenen – geniessen es, wenn uns jemand kunstvoll eine Geschichte erzählt. Bereits Martin Luther soll gesagt haben: «Wenn man von der Rechtfertigung predigt, schlafen die Leute ein. Aber wenn man eine Geschichte erzählt, dann recken alle die Ohren und hören fleissig zu.»

Geschichten helfen, komplexe Inhalte zu veranschaulichen, weil sie eher nach Relevanz als nach «Wahrheit» fragen. Schliesslich ist das «Gleichnis vom verlorenen Sohn» auch erfunden. Na und? Es kommuniziert auf der Ebene der Erzählung tiefe theologische Botschaften. Geschichten zeigen uns die Welt aus einer neuen Sicht. Sie erregen unsere Aufmerksamkeit und berühren uns emotional.

«Kindern erzählt man Geschichten zum Einschlafen – Erwachsenen, damit sie aufwachen.» (Jorge Bucay)

Wie Geschichten das Leben deuten
Geschichten sind wahr, nicht wenn und weil sie «passiert» sind, sondern wenn und weil wir sie nicht vergessen wollen.

In einer meiner Ausbildungen habe ich den Grundsatz gelernt: «Verbürge dich für die Wahrheit der Geschichten, die du erzählst!» Das heisst nicht, dass ich mich dafür verbürge, dass die Geschichten historisch so «passiert» sind. «Passieren» kommt vom französischen Wort «passer», vorübergehen: heute passiert, morgen «passé»!

Wahrheit hat nichts mit «passiert sein» zu tun. Das deutsche Wort «Wahrheit» kommt von «bewahren» – griechisch «aletheia».Wenn wir «aletheia» wörtlich übersetzen, bedeutet es «das nicht zu Vergessende», «das, was wir nicht vergessen dürfen».

Was ich erlebe, erlebt mein Gegenüber in derselben Situation ganz anders. Und beide Geschichten, die darüber erzählt werden, sind trotzdem «wahr».

Auch historische Geschichte ist immer nur von Menschen erzählt und nicht mit einer Zeitmaschine objektiv überprüfbar. Wenn ich mich also für die Wahrheit einer Geschichte verbürge, dann bürge ich dafür, dass hier etwas bewahrt bleibt, was lohnt, daran erinnert und nicht vergessen zu werden.

Geschichten erzählen von Erfahrungen, die wir nicht definieren können
Wohl jeden Tag machen wir Erfahrungen, die wir nicht genau definieren können. Was einer Mutter ihre Kinder bedeuten, kann sie niemandem erklären, der selber keine Kinder mag. Ich kann keine vernünftigen, objektiven Gründe angeben, warum ich jemanden liebe und warum jemand mich liebt. Du kannst nicht erklären, was für dich schön ist und warum.

Wo immer wir an Schönheit, Liebe und Tod rühren, versagen unsere Definitionen. Wir berühren ein Geheimnis, das grösser ist als unsere Begriffe und unser Begreifen. Und doch können wir zu diesen herzbewegenden Erfahrungen auch nicht schweigen. Eine herzbewegende Erfahrung sucht sich ihre Geschichte – versucht, das Unsagbare sagbar zu machen.

Wir Menschen brauchen alte, überlieferte Geschichten wie biblische Geschichten, weil sie uns Mut machen, unsere Hoffnung wecken und uns zur Güte anstiften.

Viele sagen zu mir: «Die biblischen Geschichten sind häufig grausam» – und ich erkenne darin den Wunsch nach einer heilen Welt. Aber, liebe Leserin, lieber Leser: Unsere Welt war noch nie heil, sondern immer gefährlich, bedroht und bedrohlich. Darum sind auch wirklich gute, über Jahrhunderte gewachsene und vielen Generationen weitergegebene Geschichten keine paradiesischen Fabeln, bei denen alles nur eitel Sonnenschein ist. Nur aus Geschichten, die das Leben schrieb, lernen wir Mut zu fassen, uns der Angst zu stellen und aus den Geschichten der Menschen aus ferner Zeit das Vertrauen zu schöpfen, dass Gott uns immer und überall begleitet.

Fazit
Wenn wir einander die biblischen Geschichten erzählen, so schwingt tiefes Urvertrauen mit:
1. Alles Leben hat einen unendlichen guten Grund – einen Gott, der uns hält.
2. Wir Menschen erleben uns in unserer Endlichkeit, bewusst abgesondert von der Unendlichkeit, an die uns der Himmel erinnert. Wir erleben uns in Zerrissenheit, wir fühlen uns durch unsere Fehlerhaftigkeit getrennt von Gott.
3. Und wir Menschen können uns weder im heldenhaften Kampf noch aus eigener Kraft aus dieser absondernden Angst und Endlichkeit erlösen. Wir sind und bleiben endlich und unvollkommen. ABER!!: Wir sind unendlich und vollkommen gewollt.
4. Dort wo die Erfahrung geschenkter Liebe («Gnade») wirksam wird, kann sie sich auswirken und uns und die Welt verändern.

Christsein heisst wissen, dass jedes Menschenkind, mag es als Köngis- oder als Waisenkind auf die Welt gekommen sein, geliebt und gewollt ist. Und dass jeder Mensch – egal wie er sein Leben lebt – von Gott und seiner Liebe begleitet wird.

Liebe Leserin, lieber Leser

Freuen Sie sich auf den nächsten «Fürgrüebler»-Tag – vor allem, wenn es ein Sonntag ist und man Zeit hat.

Kuscheln Sie sich vor das Cheminée, den Schwedenofen oder einfach in eine warme Decke! Und erzählen Sie sich gegenseitig Geschichten!

Sie wissen nicht, was für welche? Keine Angst, da kann ich Ihnen helfen. Melden Sie sich einfach – ich habe gaaaanz viele.

MARIANNE AEGERTER


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