Eine besondere Schreinerei

  30.06.2020 Leserbeitrag

Wir hatten uns zusammengesetzt, um gemeinsam Ziele für die neu eingerichtete Schreinerei zu suchen, die wir dann auf Holzschilder schreiben und in der Schreinerei aufhängen wollten. Wenn die Jugendlichen verstehen, warum etwas getan werden soll und es – wie in diesem Fall – auch noch von Vorteil für sie ist, dann ist es einfacher, sie zum Mitmachen zu motivieren. An der Versammlung nahmen Margarita, Omar, Mery, Harold, Ruth, Manuel und Fernando und noch einige andere Jugendliche teil. Wie üblich hatten wir neben der Wandtafel, auf der wir alle Vorschläge zu sammeln pflegten, ein grosses Blatt Papier befestigt, das dieses Mal die Überschrift trug: «Hauptzielsetzung für die Schreinerei».

«Was werden wir in der Schreinerei herstellen?», fragte Manuel. Er war heute der Sekretär der Gruppe und musste die Vorschläge aufschreiben. «Mongo stellt wieder Fragen», kicherte Ruth, die immer besonders schlau und vorwitzig war. «Möbel natürlich!» Manuel wurde von allen gerne «Mongo» genannt, abgeleitet von ‹Mongolismus›, heutzutage als Down Syndrombezeichnet, weil er manchmal etwas schwer von Begriff war und seine Augen leicht hervorstanden. Die Geschichte von Manuel unterschied sich nicht im Wesentlichen von anderen Kindern und Jugendlichen von Tres Soles. Seine Eltern waren Alkoholiker. Der Vater beging vor seinen eigenen Kindern Selbstmord. Die fünf Kinder wurden in verschiedenen Heimen untergebracht. Manuel landete bei einem Ehepaar, das Kinder nur aufnahm, um bei internationalen Organisationen Geld zu beantragen, um sich selbst zu bereichern in Form von schnellen Autos oder durch den Erwerb von Häusern. Als ihre Machenschaften aufflogen, wurde das «Heim» geschlossen und Manuel kam zu uns. «Ruth!», warf ich protestierend ein. Sie senkte den Kopf, denn sie wusste genau, dass ich es nicht gern hatte, wenn sie sich gegenseitig mit solch verletzenden und diskriminierenden Namen ansprachen. An dieser Stelle muss ich jedoch wieder einmal betonen, dass in Bolivien das Verpassen eines Spitznamens, der oft den Kern trifft, ob im Positiven oder Negativen, weit verbreitet ist. «Also, die Frage lautet: ‹Welche Art Möbel werden wir herstellen? Das war es doch, was Manuel meinte!›» «Ich denke, jeder sollte sich ein Bett, einen Nachttisch, einen Stuhl und einen Tisch schreinern können», meinte Margarita, stets mütterlich um das Wohl der anderen besorgt. «Und weshalb?»

«Wenn man etwas selbst herstellt, gibt man auch besser acht auf seine Sachen», sagte Mery. Die Kinder und Jugendlichen von Tres Soles wussten trotz allem schon recht gut um ihre Aggressionen, die sie nicht nur den anderen gegenüber sondern auch sich selbst gegenüber hegten, und dass sie nur allzu oft in Zerstörungswut ausarteten. Nicht selten zertrümmerte jemand den Lichtschalter mit der Faust oder kratzte mit einem Taschenmesser an der Wand im Treppenhaus entlang, während er die Treppe hochstieg, nur weil ihm gerade danach zumute war. Natürlich war der Grund für diese Aggressionen immer in ihren Lebensgeschichten zu finden, aber dulden konnten und wollten wir es dennoch nicht.

«Eigentlich müssten wir ein Haus aus Stahl und Beton bauen, einen richtigen Bunker, der Bomben und Raketen standhält», witzelte der oft besonders aggressive Fernando, der von seinem Taschengeld, das er sich in der Kartenwerkstatt erarbeitete, wegen der Schäden, die er anrichtete, häufig irgendwelche Reparaturen bezahlen musste.

«Sogar einen Bunker würdest du kaputt bekommen!», rief Fabiola hinter Mery versteckt hervor. «Welche Kuh hat das gerade gesagt?» Nachdem ich Fernando beschwichtigt hatte, sagte ich zu Manuel, dass er die Vorschläge auf die Wandtafel schreiben solle. «Was? Das mit dem Bunker?» «Nein, natürlich nicht, sondern dass man auf die Dingen achtgeben soll, die man selbst gemacht hat!»

Die anderen verdrehten die Augen. Im weiteren Gespräch stellte sich heraus, dass die Jugendlichen gerne die Möbel, die sie selbst schreinerten, mitnehmen wollten, wenn sie eines Tages Tres Soles verliessen. Ich wusste, dass das die Wohngemeinschaft ziemlich teuer zu stehen kommen würde, aber ich wusste auch, dass es eine traurige Geschichte war, ohne nichts oder höchstens mit einer Plastiktüte voll alter Kleider zu kommen und ein paar Jahre später mit derselben Plastiktüte wieder zu gehen. «Aufschreiben! Los, aufschreiben!», drängte ich Manuel, der immer noch nicht zu schreiben angefangen hatte. Schliesslich schrieb er kratzend und knirschend Ruths Satz an die Wandtafel – und «achtgeben» mit h. «Ohne h, Mon … !» kreischte Ruth, brach aber auf einen strengen Blick Margaritas hin ab, die sie prompt mit dem Satz zurechtwies: «Du solltest etwas mehr denken, bevor du sprichst und dich weniger schminken!»

«Das ist jetzt nicht das Thema. Wir wollen unsere eigenen Möbel herstellen, damit wir um niemanden um etwas bitten müssen», mischte sich Omar vermittelnd ein. Als sämtliche Vorschläge auf der Wandtafel notiert waren, wählten wir die für uns wichtigsten Punkte aus und stellten folgenden Satz zusammen: «Wir schreinern unsere eigenen Möbel, weil, wenn wir Tres Soles verlassen, uns etwas gehören soll und wir ausserdem auf unsere selbst gefertigten Sachen mehr achtgeben wollen.»

Am Beispiel der Schreinerei lässt sich gut erkennen, wie sich die Zielsetzungen im Laufe der Zeit, je nach Generation und Umständen, verändern können. Wir hatten schon in unserer ersten Wohngemeinschaft in El Alto eine kleine Schreinerei, in der zum einen Möbel für den allgemeinen Gebrauch von Hand hergestellt, zum andern aber vor allem vorhandene Möbelstücke repariert wurden, denn die Zerstörungswut dieser Jugendlichen, die unmittelbar von der Strasse kamen, war damals noch weit grösser. Nun waren wir im Besitz einiger Maschinen und die Jugendlichen konnten sogar an die Herstellung eigener Möbelstücke denken. Die Bedienung der Maschinen überwachte unser Verantwortlicher für die Schreinerei strengstens und die Maschinen, von denen bei falscher Handhabung eine ernsthafte Gefahr ausging, bediente er ausschliesslich selbst. Schliesslich wollten wir in unserer Werkstatt keine professionellen Schreiner ausbilden, sondern die Zielsetzungen waren rein erzieherischer und therapeutischer Art. Der Verantwortliche unserer Schreinerei, der schon mehrfach erwähnte Braulio, selbst ehemaliges Mitglied von Tres Soles, der sich letztendlich nicht für eine Schauspielausbildung, sondern für eine Schreinerlehre entschieden hatte, bringt den Jugendlichen mit viel Geschick das Schreinern bei. Er sammelt Kataloge verschiedener, ausländischer Möbelfabriken und jeder konnte sich so zu einem Entwurf für seine eigenen Möbel inspirieren lassen. Braulio ist strikt gegen Einheitsmöbel. Das Resultat sind Betten und Tische in allen Formen und Farben, mit geschnitzten Verzierungen und eingraviertem Namen der stolzen Besitzer. Einige besonders romantisch veranlagte Mädchen versahen ihre Möbel mit einem Herz und ihrem Namen, wobei sie für einen weiteren Namen im Herzinneren Platz liessen. Das führt natürlich besonders unter den Jungen zu wilden Spekulationen und Vermutungen. Es gab unter den «Solesianern» auch einen geschäftstüchtigen Schlaumeier, der meinte, dass die Arbeit in der Schreinerei eigentlich wie die Arbeit in der Näh- und Kartenwerkstatt bezahlt werden müsste. «Aber eure Tische und Stühle werden doch nicht verkauft, die macht ihr doch für euch selbst!», protestierte ich. «Ja, schon, aber die Möbel müsstet ihr doch auch kaufen, wenn wir sie nicht machen würden …»

«Falsch, wenn du dir keine eigenen Möbel schreinerst, bekommst du von uns aus unserem Bestand Möbel geliehen. Wenn du eines Tages dann Tres Soles verlässt, musst du sie zurückgeben. Kapiert?»

STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected] erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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