Pizzeria Italia

  03.06.2020 Leserbeitrag

Mit dieser Bolivienspalte kehre ich nun wieder zur Vorstellung unseres Projekts zurück, genauer gesagt zu unseren «Werkstätten», wie sie funktionieren und was sich daraus für den Einzelnen entwickeln kann. Im letzten Jahr habe ich bereits über die Küche in Tres Soles berichtet, die ebenfalls als «Werkstatt» betrachtet wird, in der die Jugendlichen abwechselnd Dienst leisten und das Kochen erlernen. Dieser Küchendienst ist nicht besonders beliebt, da er doch recht viel Zeit beansprucht und man früher als die anderen aufstehen muss. Trotzdem haben mehrere Jugendliche in der Küche von Tres Soles die ersten Handgriffe für ihren späteren Beruf erlernt, nämlich den des Kochs.

Guisela und ich sassen in der Pizzeria Italia im Zentrum von El Alto. Die Pizzeria Italia ist nicht Teil irgendeiner billigen Pizzakette, nein, hier wird echt italienische Pizza gebacken. Der Besitzer ist jedoch kein Italiener, sondern Eloy, ein mittlerweile erwachsener Solesianer. Wenn man einmal in Tres Soles gelebt hat, bleibt man ein Leben lang ein Solesianer. Auch über ihn, der aus der Anfangszeit von Tres Soles stammt, habe ich bereits viel erzählt und muss seine Lebensgeschichte hier nicht noch einmal erwähnen.

«Meine Eltern schienen kein Geld zu haben», sagte Eloy etwas verbittert, während er die Pizzas, die Guisela und ich bestellt hatten, in den Ofen schob. Wir waren gerade dabei, Erinnerungen auszutauschen. «Als ich zwölf Jahre alt war, durfte ich nicht mehr zur Schule gehen; stattdessen musste ich auf der Strasse Schuhe putzen und Zigaretten verkaufen. Da es manchmal recht spät wurde, ging ich nachts zur Notschlafstelle, die ihr damals im Zentrum von El Alto eingerichtet hattet.»

«Wie lange das schon her ist! Zwanzig Jahre und mehr», seufzte Guisela. «Und jetzt haben wir graue Haare. Schau dir mal Stefan an!» «Die grauen Haare hat er unseretwegen», flachste Eloy. «Was ist nicht alles in der Zwischenzeit passiert ... Stellt euch nur mal vor, als ich zu euch kam, besass ich nichts, nur meine Schuhputzkiste und die alten, verdreckten Kleider, die ich auf dem Leib trug. Wie ihr euch sicher erinnern könnt, habe ich mir in der Kartenwerkstatt die ersten Pesos verdient ...» «Ja, aber wenn du irgendwie konntest, warst du immer in der Küche», sagte ich. Eloy nickte. «Weil es dort neben dem Topf mit der brodelnden Suppe immer so schön warm war.»

Auch wenn ich es schon häufig erwähnt habe, muss ich es doch immer wieder tun. Wenn der eisige Wind von den Schneebergen des Illimani über die Stadt La Paz auf 4000 Metern Höhe hinwegfegt, fallen die Temperaturen abends oft weit unter null Grad und die Kälte kriecht einem förmlich in die Glieder – zumal man dort keine Heizungen wie in weiten Teilen Europas kennt. Allein die Nähe eines dampfenden Suppentopfs kann dann schon eine Wohltat sein, so wie es Eloy schilderte, der in den Anfängen mit uns in unserer Wohngemeinschaft in El Alto, einem Randviertel von La Paz, lebte.

«Eigentlich hattest du nie grosse Probleme, wie andere sie hatten. Du bist auch immer gern zur Schule gegangen, nicht wahr?», fragte Guisela. «Das war es, was mir am schwersten fiel, als ich Schuhe putzen gehen musste – nicht mehr in die Schule gehen zu können. In Tres Soles habe ich dann die Chance gehabt, die zwei verlorenen Schuljahre wieder aufzuholen. Nach dem Schulabschluss habe ich dann meinen Militärdienst in Tarija gemacht, wisst ihr noch?» «Natürlich, und als du zurückkamst, gab es doch irgendein Problem mit deiner Familie ...» «Tja, meine Mutter und mein Vater, die scheinbar kein Geld hatten, um mich durchzubringen und in die Schule zu schicken, haben, als ich vom Militärdienst zurückkam, mir zu Ehren ein grosses Fest veranstaltet. Sie mieteten zu diesem Zweck ein komplettes Tanzlokal und luden die gesamte Nachbarschaft ein. Ein Vermögen haben sie für Essen, Trinken und Musik ausgegeben, das kann ich euch sagen. Und der Alkohol ist in rauen Mengen geflossen!» «Vielleicht haben deine Eltern jetzt etwas mehr verdient und konnten es sich leisten», begann ich vorsichtig. «Ach wo, zum Saufen haben sie immer genug Geld gehabt. Lieber haben sie Bier gekauft und ihre Kinder zum Arbeiten auf die Strasse geschickt, das war immer so.»

Ich muss Eloy leider recht geben. So geht es in vielen bolivianischen Familien zu. Die Bierindustrie und die Tanzlokale in Bolivien sind nie krisengeschüttelt, ob die Kinder zu Hause nun hungern müssen oder nicht.

Eloy zog die Pizzas aus dem Ofen, die dort vor den Augen der Kunden zubereitet und gebacken werden. Ab und zu wechselte er ein Wort mit anderen Kunden, deckte eigenhändig die Tische auf, räumte schmutziges Geschirr ab oder er entkorkte einen bolivianischen Wein aus der Region um Tarija im Süden Boliviens, die bekannt ist für ihre guten Weine. Zwischen den Arbeiten, die er mit schnellen und sicheren Handgriffen erledigte, setzte er sich immer wieder für einen Moment zu uns und wir frischten weiter unsere Erinnerungen gegenseitig auf. «Ich entsinne mich noch genau daran», begann Eloy erneut das Gespräch, «wie schwer mir das fiel, als die Wohngemeinschaft nach Quillacollo umzog und ich in El Alto bleiben musste, um die Hotelfachschule zu besuchen. Ich war nach all den Jahren in der Gemeinschaft nicht mehr gewohnt, alleine zu leben.» «Weisst du noch, dass du anfangs Schauspieler werden wolltest? Du hast damals den Hund im ‹Kinderkreuzzug› gespielt, als wir mit dem Stück monatelang durch Europa getourt sind», erinnerte ich Eloy an längst vergangene Zeiten. «Oh ja, das war eine schöne und interessante Zeit», lachte Eloy. «Ich habe tatsächlich daran gedacht, auf eine Schauspielschule zu gehen, aber dann habe ich mich entschieden, Koch zu werden, nicht nur wegen der warmen Töpfe und Öfen.» Er wischte sich den Schweiss von der Stirn, denn in der Pizzeria Italia war es warm, obwohl es draussen regnete und ein eisiger Wind wehte. «Als ich die Hotelfachschule abgeschlossen hatte, habe ich ein Praktikum in einem italienischen Restaurant in La Paz bei einem waschechten italienischen Meister gemacht – das merkt man doch, oder?»

Guisela und ich bejahten lebhaft. Das erste Restaurant, das er mit Hilfe seiner Frau eröffnet hatte, war allerdings kein italienisches Restaurant gewesen, sondern ein «pollo frito» am Busbahnhof von El Alto, wo er Brathähnchen verkaufte. Das Geschäft war so einträglich, dass er sich später seinen Wunsch, einmal eine Pizzeria betreiben zu können, erfüllen konnte. Zusammen mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter hat er uns mehrere Male in Quillacollo besucht. Eines Tages, es war an Weihnachten, tauchte er in Tres Soles auf, brachte jede Menge Lebensmittel und Zutaten mit und kochte für die Kinder und Jugendlichen. «Ich war auch einmal so einer wie ihr und habe in dieser Wohngemeinschaft gelebt», sagte er zu ihnen. «Seht nur, was aus unsereinem werden kann, wenn wir uns nur etwas Mühe geben.»

Eloy kochte ebenfalls ein wahres Festessen, als uns unsere Gönner aus der Kirchengemeinde St. Konrad in Tres Soles besuchten. Wir kehrten übrigens alle zusammen ebenfalls in der Pizzeria Italia ein, als ich sie nach La Paz begleitete, von wo aus sie den Heimflug antraten.

STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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