RANDNOTIZ

  05.06.2020 Leserbeitrag

Keine Lust auf Löcher im Gedächtnis

JENNY STERCHI
«Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen». Und doch kribbelt es mir in den Fingern. Es brauchte keine Corona-Krise, ich stolperte schon vorher über fragwürdiges Vorgehen einiger Vertreter unserer Berufsgruppe. Was erwartet ein Sportjournalist, wenn er einem völlig ausgepumpten Athleten das Mikrofon buchstäblich ins Gesicht drückt mit der sinnfreien Frage, warum es nun doch nur zu Rang 2 gereicht habe? Was veranlasst einige namhafte Zeitungen, Beiträge zu Reizthemen wie Klimawandel, Präsidentschaftswahlen oder wirtschaftliche Missstände staatlich geförderter Grossunternehmen mit reisserischen Titeln und darin bevorzugt verwendeten Fragezeichen auszustatten? So richtig den Hut lüpfte es mir im Laufe der Corona-Pandemie. Mit einer voyeuristisch wirkenden Veröffentlichung von ersten Infektionsfällen, die nicht selten von Schuldzuweisungen begleitet waren, erschien mir die Rolle einiger Medien zunehmend suspekt. Beinahe euphorisch und für mich fragwürdig wurde das erste Todesopfer der Pandemie verkündet. Auf der Jagd nach Abonnenten, Auflagezahlen und Wahrnehmung gehen Moral und ein gewisser Qualitätsanspruch verloren. Und da hebt es mir den selten getragenen Hut. Es liegt mir fern, alle Medien über einen Kamm zu scheren und mir begegnen zum Glück auch noch viele qualitativ gut recherchierte Beiträge. Wenn mit sogenanntem Investigativjournalismus politische und wirtschaftliche «Mauscheleien» aufgedeckt werden, geschieht dies im Sinn und zum Wohl der Gesellschaft. Wenn er aber genutzt wird, um eine mediale Schlammschlacht anzuzetteln, dann belastet er meiner Ansicht nach die Medienlandschaft und besetzt wertvolle freie Kapazitäten in der Wahrnehmung der Leser. Wie es Sabrina Heike Kessler, Medienforscherin der Universität Zürich, in einem Interview sehr anschaulich erklärte, formen einfach strukturierte Nachrichten, die mitunter falsch sind, ein mentales Bild im Kopf des Menschen. Je länger die damit gelieferte einfache Erklärung im Kopf behalten wird, desto fester platziert sie sich im Gedächtnis und lässt sich nur noch schwer verändern. Entspricht die Information schliesslich doch nicht der Wahrheit, reisst es eine Lücke in eben jenes Gedächtnis. Nicht selten entscheidet sich der Mensch dann doch lieber für das falsche Bild, um nicht eine Lücke, die ein unvollständiges, unsicheres Bild verursachen könnte, zu riskieren. Liegt es daher nicht in der Verantwortung des Medienschaffenden, das Risiko der Lücke beim Leser von Anfang an zu minimieren, indem er leicht verständlich und durch Fakten belegt das schreibt, was wirklich ist, auch wenn es für den Leser mitunter unbequem ist?

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