RANDNOTIZ

  19.06.2020 Leserbeitrag

Die Maske der Gewohnheit

KEREM S. MAURER
Dass der Mensch ein Gewohnheitstier ist, stellte der deutsche Schriftsteller und Kulturgeschichtler Gustav Freytag bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert fest. Also in der «Prä-Corona-Zeit». Dennoch scheint mir diese Aussage aktueller denn je, immer wenn ich Menschen sehe, die sich oder ihre Mitmenschen mit Hygienemasken – deren Sinn oder Unsinn hier nicht das Thema ist – gegen das Coronavirus schützen (wollen). Freiwillige Maskentragende sind doch diejenigen unter uns, die den tödlichen Ernst der Coronasituation erkannt haben – oder? Sonst würden sie ja keine Masken tragen.

Vielleicht sind Ihnen die unterschiedlichen Tragarten auch schon aufgefallen. Einige maskieren sich nur den Mund und lassen die Nase frei. Andere tragen die Maske zwar nach Vorschrift in Geschäften oder im ÖV – fummeln aber mit ihren Fingern immer wieder daran herum, kratzen sich darunter oder zupfen sie zurecht. Und kaum ziehen sie die Maske aus, wursteln sie diese entweder in die Hosentasche oder falten sie ohne Gummihandschuhe fein säuberlich zusammen und packen sie in die Handtasche, wo noch andere gebrauchte Masken nach Farben sortiert auf ihren nächsten Einsatz warten – um sie zehn Minuten später wieder hervorzunesteln und sie sich mit allem, was dran (k)lebt aufs Neue ins Gesicht zu klatschen. Und dann gibt es noch jene Corona-Maskierten, die ihre Schutzmaske lässig über das Kinn nach unten schmieren und sie in augenscheinlich virenfreien Zonen wie ein trendiges Modeaccessoire um den Hals tragen. Korrekt wäre, wenn diese virenverseuchten Masken, denn das müssen sie ja sein, sonst hätten sie keinen Nutzen, luftdicht verpackt und verschlossen in den Müll geworfen würden. Ja, man gewöhnt sich schnell an die Maske. So schnell, dass viele Maskenträger und -trägerinnen sie einfach in der Natur entsorgen, mitsamt den lebensgefährlichen Viren drin, als wären es leere PET-Flaschen. Letzthin sagte eine deutsche Kollegin, die nach den Lockdownlockerungen mit dem Zug in ihr Heimatland reiste, dass es ihr nach zehn Stunden Maskenzugfahrt schon fast komisch vorkam, danach wieder keine mehr zu tragen. So schnell gewöhnt man sich daran.

Auch die Hände schütteln wir einander zur Begrüssung oder zum Abschied nicht mehr, Wangenküsschen sind verpönt. Das war vor Corona kaum denkbar. Doch schon haben wir uns daran gewöhnt und wundern uns im besten Fall, wenn uns jemand zur Begrüssung die Hand entgegenstreckt. Im schlimmsten Fall wenden wir uns angeekelt ab. Bitte nicht berühren, schreit unser sensibilisiertes Immunsystem entsetzt. Auch an das soziale Abstandhalten haben wir uns längst gewohnt. Kommt uns jemand zu nahe, empfinden wir dies als Zumutung. Keine Begrüssungsküsschen, kein Händeschütteln und Masken vor dem Gesicht. Ist das alles reine Gewohnheitssache? Wer lacht darüber, hinter der Maske der Gewohnheit?

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