Im Saanenland aufgewachsen und jetzt …

  31.07.2020 Serie

Das Saanenland war und ist geprägt von Zu- und Wegzügen. Die Leserinnen und Leser des «Anzeigers von Saanen» sind nicht nur im Saanenland zu finden, sondern in der Schweiz und im Ausland – ja, in der ganzen Welt. Diese «Auswanderer» will «Im Saanenland aufgewachsen und jetzt …» vorstellen.

Es ist Samstagabend und Dina Ambühl sitzt mir gegenüber am Tisch im «Centenaire» in Estavayer-le-Lac. Sie brauchte nicht lange zu fahren von ihrem Wohnort in Gletterens am Neuenburgersee. Eigentlich sollten die Strassen im Städtchen voller Musik und voller Leute sei, aber «Swing in the Wind» – das Jazzfestival von Estavayer-le-Lac – wurde wegen der Pandemie abgesagt. Wir haben also genug Ruhe und Musse für ein Gespräch.

Ich sage Saanenland, was sagen Sie?
Mir kommen zuerst die Berge in den Sinn und die Kühe. Das bedeutet für mich Heimat. Dann denke ich an Lorenz Bach. Bei ihm, in seinem Geschäft, habe ich als Modeverkäuferin gearbeitet, nachdem ich in Saanen Drogistin gelernt hatte.

Lebten Sie von Geburt im Saanenland?
Nicht ganz. Geboren wurde ich in Rothrist. Als ich ein Jahr alt war, zügelten wir nach Gsteig und auf die Fure. Dort blieben wir zwölf Jahre und zügelten dann nach Saanen. Zur Schule ging ich in Gsteig und dann im OSZ in Gstaad. Anschliessend an die Schule lernte ich während vier Jahren Drogistin in der Drogerie Jaggi in Saanen. Ich arbeitete an verschiedenen Orten: in Saanen, an der Lenk und auch bei Lorenz Bach und bei Alpmed, auch noch, als wir von Saanen nach Blankenburg umgezogen waren. Auf Anraten eines Saaner Nachbarn meldete ich mich auf eine Stelle in Thun. Ich habe schon viele Umzüge hinter mir.

Sie sitzen neben einem jungen Mann am Tisch. Wer ist er?
Er heisst Yannik und ist siebenundzwanzig Jahre alt, gut aussehend, aber eben schon vergeben – nämlich an mich. Wir möchten gerne ein Haus kaufen oder eines bauen. Wie ich ist Yannik an vielen Orten aufgewachsen: Murten, Köniz und während acht Jahren in Costa Rica. Er ist ausgebildeter Schreiner, arbeitet aber nicht in seinem Beruf, sondern im Online-Marketing.

Wie sieht Ihre Situation heute aus?
Wir wohnen beide in Gletterens im Haus von Yanniks Grossmutter, die zurzeit in Spanien ist. Gletterens bedeutet für mich ein Feriengefühl, französischer Charme und welsches Ambiente. Ich kann an den Sandstrand gehen und mir den Wind durch die Haare wehen lassen. Übrigens: Gletterens hat den schönsten Steg und den schönsten Sandstrand der Welt.

Welche Bilder tauchen auf, wenn Sie an Ihre Kindheit denken?
An meine Schulzeit erinnere ich mich kaum mehr. Es ist ein anderes Bild, das sich aufdrängt: Zwei Welten finden sich im Saanenland. Die Welt der reichen Leute und die der weniger reichen, die sich kaum begegnen. Und wenn, dann wird es schnell surreal. Dann gibt eine Dame im Geschäft in einer halben Stunde soviel Geld aus, wie ich in fünf Monaten verdiene. Für mich sah ich im Saanenland in meinem Beruf und mit meiner Arbeit kaum Zukunftsperspektiven oder Weiterentwicklungsmöglichkeiten.

Was möchten Sie den Saanerinnen und Saanern ans Herz legen?
Glücklich ist, wer das schätzt, was er hat. Das Saanenland ist schön, bietet eine grossartige Natur, die erhalten und geschätzt werden sollte. Dann braucht es vielleicht auch einen Perspektivenwechsel, denn das Saanenland ist nicht der Mittelpunkt der Welt. Es tut gut, sich von der Region zu lösen, zu reisen und den Horizont zu erweitern. Liebe Leute, kommt nach Gletterens, nach Estavayerle-Lac und geht auf den Creux du Van. Die Schweiz ist so vielfältig.

Wie lebt es sich im Unterland?
In Thun traf ich den Sohn eines Nachbarn aus Saanen in der Wakeboardschule in Gunten – das war für mich dort eine andere Welt. Die Leute und die Umgebung entsprachen meiner Mentalität. Ich sah mich neu, sah mich anders. So geht es mir auch mit Yanniks Familie, die auch zu meiner geworden ist.

Können Sie noch etwas auf Saanendeutsch sagen?
«Gib mer e Schnäfel Chees!» – «Mit den Ambeisseni ga höuwe.» – «Gib mer gschwind der Hudel!» Ich werde oft auf den Dialekt angesprochen, obwohl ich sprachlich versucht habe, mich meiner Umgebung anzupassen, was offensichtlich und hörbar noch nicht ganz gelungen ist.

Dann ist das Saanenland Ihre Heimat geblieben?
Das Saanenland ist dort, wo ich mich als Kind sehe: Auf der Fure bei den Kühen, ein Paradies. Das Saanenland ist ideal zum Aufwachsen und zum Sterben. In der Zwischenzeit möchte ich woanders leben.

THOMAS RAAFLAUB


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