Ein tropisches Paradies

  04.08.2020 Leserbeitrag

BOLIVIENSPALTE – NEWS VON STEFAN GURTNER

Ebenso wie Selbstbestimmung, künstlerische und handwerkliche Werkstätten, Sport und Spiel sind Reisen ein wichtiges Erziehungsmittel, auf das ich in den nächsten Bolivienspalten ein wenig näher eingehen werde. Reisen sind keinesfalls nur Spass, Vergnügen oder Zeitverschwendung, wie wir auch schon von engstirnigen Zeitgenossen vernehmen mussten, die, notabene, selbst jedes Jahr ausgiebig Urlaub machen, ohne sich je zu hinterfragen. Nein, Reisen dienen dazu, um kulturelle, geschichtliche und geografische Kenntnisse zu vermitteln.

Das ist gerade für diese Jungen und Mädchen wichtig, die selten oder nie die Möglichkeit gehabt haben, andere Orte und Gegenden ihres Heimatlandes kennenzulernen. An den mehrtägigen Wochenendausflügen nehmen immer beide Wohngemeinschaften, das Kinder- und Jugendhaus Tres Soles und das Studenten- und Lehrlingsheim Luis Espinal, teil, um das Zusammengehörigkeitsgefühl und das Vertrauen zwischen beiden Gruppen zu stärken.

Von der erzieherischen Bedeutung des Reisens zeugen auch unzählige Erziehungsromane. Einer der frühesten und auch der berühmteste ist wohl «Wilhelm Meisters Wanderjahre» von Johann Wolfgang von Goethe, der in meinen Bolivienspalten ebenfalls schon Erwähnung fand. In diesem Sinn animieren wir die Kinder, Jugendlichen und Betreuer auch immer wieder, über die gemachten Erfahrungen zu schreiben. Ein besonders gelungenes Beispiel ist der Bericht, den Jorge Copa, ehemaliger Wochenendbetreuer und damals Psychologiestudent, über einen Ausflug ins tropische Tiefland für unsere Internetseite geschrieben hat:

Mit Beginn des Monats Juli wurde es für die Solesianer und Espinaler höchste Zeit, ihre Koffer, kleinen Rucksäcke oder Plastiktüten zu packen. Normalerweise wird immer erst im letzten Moment gepackt, aber anders als in den vorangegangenen Jahren wurde dieses Jahr schon eine Woche vorher damit begonnen.

Das auserwählte Ausflugsziel, ökologisch intakt aufgrund seiner vielen Nationalparks und ein Touristenparadies im tropischen Cochabamba – besser bekannt als Villa Tunari – hiess in früheren Zeiten San Antonio, benannt nach den wenigen beherzten Personen, die einst den Mut hatten, das Gebiet zu erforschen und besiedeln.

Zunächst einmal mussten wir uns jedoch folgende Frage stellen: «Ist es möglich, mit nur 2000 Pesos Bolivianos mit 60 Personen an einen der schönsten und teuersten Orte des Landes zu fahren?»

Die Antwort lautete «Nein». Allerdings leben wir in Bolivien, wo man so manches Unmögliche möglich machen kann. Überdies konnten wir auf Mitarbeiter – die, wenn auch anfänglich etwas verzagt, sich einig waren und im Laufe der Zeit perfekt zusammenarbeiteten –, auf unermüdliche Freiwillige sowie auf den brennenden Wunsch, auf unvergessliche Ferien zählen.

Und so kam es, dass Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene, Freiwillige, Mitarbeiter, Freunde in Quillacollo und nicht zu vergessen unsere Kirchengemeinde Santísima Trinidad sich alle zusammen taten, um diesen Wunsch in Erfüllung gehen zu lassen. Und wie? Wir bereiteten mit viel Liebe leckeres fricase zu (scharfe Schweinefleischsuppe mit Maiskörnern, die stundenlang köcheln muss), geniale sopa de mani (Erdnüsschensuppe), geschmackvollen pampaku (Hühnchen mit Kartoffeln und Kochbananen in einer Sauce – um es zu kochen, kommt alles in einen Topf, der zusammen mit heissen Steinen in der Erde vergraben wird), wundervollen pique macho (frittierte Rindfleischstücke, Pommes frites, Tomaten, Zwiebeln und Chili), exzellentem charquekan (getrocknetes Lamafleisch mit gekochten Eiern und Kartoffeln) und einen unglaublichen Kartoffelsalat (der Beitrag der beiden deutschen Freiwilligen Ellen und Katharina neben all den bolivianischen Spezialitäten), um die Kirchgänger nach dem Sonntagsgottesdienst damit anzulocken und möglichst viel Umsatz zu machen. Der Plan ging auf und es klappte alles bestens.

Dass dann der Bus am Ausflugstag erst mit stundenlanger Verspätung kam, dass wir der sogenannten hora boliviana (bolivianische Uhrzeit, mit der man alle Verspätungen entschuldigt) alle Ehre machten, ist eine andere Geschichte. Auch, dass wir von tausend tropischen Insekten und Tierchen gestochen und attackiert wurden, und sich ein Affe auf den Kopf einer unserer Mitarbeiterinnen setzte – was zu einem hysterischen Anfall führte, weil der Affe zu allem Überfluss auch noch an ihren Haaren zu reissen begann – bleibt als eine von vielen Anekdoten in Erinnerung und lässt uns heute nur noch schmunzeln.

Das Wichtigste jedoch ist, dass alles funktioniert hat. Durch die Mithilfe unserer Freunde und Freundinnen und einer guten Teamarbeit war es möglich, unser Anfangsbudget zu verdreifachen und somit drei Tage an diesem wundervollen Ort zu verbringen.

Das Schönste daran ist immer, die Freude in den Augen der Kinder zu erleben, die uns so sehr brauchen, und zu sehen, wie unbeschwert sie ohne Unterlass in der Unterkunft herumtobten und mit Pancho, dem Wildschwein, das es dort gab, spielten. Für uns war es in dem Moment nicht wichtig, dass ausgerechnet Chile den Fußballpokal – die Copa América – gewinnen musste, für uns zählten nur die Gemeinschaft und der Zusammenhalt. Wir genossen diese schönen Momente sehr, besonders bei diesem traumhaften Wetter und der teilweise unberührten Natur im tropischen Regenwald. Es war einfach toll im Parque Machía, im Centro de Preservación Ecológica La Hormiga und in Incachaca.

STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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