Konsens über ethische Werte statt Klingenwetzen

  18.09.2020 Gstaad, Kirche

«Hat Barmherzigkeit Grenzen?» Über diese Frage diskutierten Regierungsrat Pierre-Alain Schnegg und Sydodalrat Ueli Burkhalter an der Podiumsdiskussion anlässlich der Kürzung der Sozialhilfe für vorläufig aufgenommene Flüchtlinge. Der Abend brachte etwas andere Ergebnisse als erwartet.

SONJA WOLF
«Also, jetzt ist es mir schon fast zu harmonisch. Wir haben Sie eingeladen, weil wir uns vorgestellt haben, dass Sie hier so richtig die Klingen wetzen!», provozierte mit einem Augenzwinkern die Moderatorin Dr. Béatrice Acklin Zimmermann, Leiterin des Bereichs Theologie und Philosophie an der Paulus Akademie Zürich. Obwohl die Diskussion spannend war, war Zustimmung und Verständnis doch eher herauszuspüren als offene Kritik.

Abgemilderte Ausgangslage
Die eher harmonische Stimmung lag zunächst an einer abgemilderten Ausgangslage: Im Februar dieses Jahres war bekannt geworden, dass der Kanton Bern vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen die Sozialhilfe massiv kürzen will. Wer nach sieben Jahren Aufenthalt noch immer keinen Job hat und auf Sozialhilfe angewiesen ist, sollte statt wie bisher 977 Franken nur noch 382 Franken erhalten. Viele Institutionen, unter anderem die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn, hatten damals die Vorlage heftigst als realitätsfremd kritisiert.

Im Mai war der Kanton dann allerdings zurückgerudert: Gekürzt wird zwar immer noch, doch geringer als ursprünglich geplant. Seit dem 1. Juni ist die Regelung in Kraft getreten, dass die vorläufig Aufgenommen ab ihrem achten Jahr ohne Job noch 696 Franken erhalten. Es geht bei diesem Betrag übrigens nur um den Grundbedarf, also etwa um Nahrungsmittel, Bekleidung, Verkehrsauslagen, Körperpflege, Telefonrechnungen. Die Miete muss davon nicht bestritten werden.

Die heftige Stellungnahme des Synodalrates vom Februar beruhte also inzwischen auf weniger brisanten Fakten.

Warum braucht es eine Kürzung?
Das tat der Diskussionsfreude allerdings keinen Abbruch. Auf die Frage nach den Gründen für die Kürzung – und das nicht einmal ein Jahr nachdem das Berner Stimmvolk eine Änderung des Sozialhilfegesetzes abgelehnt hat – gab Schnegg zu, dass die bisherige Politik noch nicht die gewünschten Erfolge gebracht habe: «Die Anzahl an vorläufig Aufgenommenen, die nach sieben Jahren selbstständig leben konnten, war einfach zu klein, wir mussten handeln.» Ausserdem musste ein früherer Fehler korrigiert werden: Ein vorläufig Aufgenommener (VA), der sich nach sieben Jahren noch nicht integriert hat, wurde vormals noch mit einer Leistungsehöhung «belohnt». Zudem sei laut Schnegg der pauschale Grundbedarf sogar ein wenig erhöht worden, der Ansatz der Sozialhilfe sei einfach für Asylsuchende abgestuft worden im Vergleich zum Ansatz für Sozialhilfe für Einheimische. Dieses Argument fiel im Laufe des Abends noch häufiger: Die Bezüge von VA sind schon vergleichsweise hoch, dürften aber nicht höher sein als die AHV-Bezüge vieler Arbeitnehmenden, die ihr ganzes Leben gearbeitet und Steuern gezahlt haben.

Die Empörung der reformierten Kirchen
Als «unverantwortbar» und «realitätsfremd» hatten die reformierten Kirchen im Februar die Kürzung der Sozialleistungen betitelt – wohlgemerkt die ursprüngliche Kürzung von 977 auf 382 Franken.

Pfarrer Burkhalter erklärte zunächst, was die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn bereits in ihrem Pressecommuniqué im Februar formuliert hatten: Die Argumentation des Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdepartements des Kantons Bern gehe an der Lebensrealität der meisten betroffenen Personen vorbei. Unter ihnen sind viele Traumatisierte und Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen kaum Chancen auf eine Integration in den ersten Arbeitsmarkt haben. Wer es in den ersten sieben Jahren in der Schweiz nicht geschafft hat, wirtschaftlich selbstständig zu werden, wird es in der Regel auch im achten nicht schaffen. Und dies nicht aus Faulheit oder fehlender Motivation, sondern weil die Voraussetzungen dafür nicht vorhanden sind. Mit einem derart niedrigen Betrag könne man nicht würdig leben, geschweige denn sich wirksam integrieren. «Dies sieht man auch an Deutschland, wo es inzwischen bereits eine zweite Hartz-IV-Generation gibt.» Der Betrag habe also scheinbar nicht ausgereicht, um sich in ein wohlhabenderes Milieu zu integrieren. «Das Wohl des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen», resümiert Burkhalter.

Schnegg beruhigt und gibt auch Fehler zu
«Ein Partizipieren am sozialen Leben ist möglich mit 696 Franken», beruhigt Schnegg, zumal Miete, Krankenkasse, Zahnarzt, Ferienlager, Sport- und Musikkurse für Kinder usw. extra finanziert werden. Ausserdem dürfe man nicht vergessen, dass VA einen anderen Status haben, dass sie unser Land wieder verlassen werden. Auf der anderen Seite müssen die Betroffenen ja nicht ihr Leben lang Sozialhilfeempfänger bleiben. «Sie können vorwärts machen, die Sprache lernen, einen Job suchen. Jeder einzelne muss Eigeninitiative entwickeln!» Die Unterstützung vom Staat dürfe nur eine Überbrückungshilfe sein.

Schnegg gibt aber auch zu, dass in der Flüchtlingspolitik zwar durchaus viel angeboten wurde, sich aber niemand wirklich für eine Auswertung der Resultate interessiert hat. Daher wird es in der Zukunft Partner geben, die für eine Region die ganze Verantwortung übernehmen müssen, zum Beispiel bei Fragen wie: Fruchten die Sprachkurse? Werden ausgebildete VA auch tatsächlich eingestellt?

Begleitung durch die Kirche
Bei all den Bemühungen der Politik geht es eher um Zahlen. Und hier könnte laut Pfarrer Burkhalter die Kirche ihre Hilfe anbieten: Die Kirche findet die Begleitung der Menschen als Individuen in ihren täglichen Integrationsbemühungen sehr wichtig. Oder möchte auch die Begegnungen zwischen Flüchtlingen und Einheimischen ermöglichen. Essenziell ist aber nicht, den Menschen jede Schwierigkeit abzunehmen, sondern sie – auch durch Kritik, gezielte Aufforderungen oder minimal gelenkte Eigeninitiativen – an ein selbstbestimmtes Leben in der Schweiz heranzuführen.

Zusammenspiel von Kirche und Politik
Einige Berner Politiker hatten die Meinungsäusserung des Synodalrates vom Februar als «unbedarft, plakativ und ideologisch» empfunden, als würden sich die Kirchen ins politische Tagesgeschäft einmischen. Das wiesen aber beide Redner entschieden zurück. «Wir wurden eingeladen, uns zu äussern», stellt Burkhalter klar. Und: «Es ist im Rahmen eines Vernehmlassungsverfahrens ganz normal, dass eine Vorlage positiv oder negativ bewertet wird», betont auch Schnegg. «Wer als Politiker damit nicht klarkommt, sollte seinen Beruf wechseln!»

Die Kirche kritisiere nicht nur, sondern biete auch aktiv Lösungsvorschläge und ihre Mithilfe in der Flüchtlingsintegrationspolitik an. Darin waren sich alle – Schnegg, Burkhalter und das Publikum – einig. Die Politik müsse die Gelegenheit, dass die Kirche ihre Hilfe anbiete, «beim Schopfe packen».

Wiedererlente Diskussionskultur
Die Voraussetzung für ein konstruktives Miteinander ist jedenfalls schon einmal gegeben: Die Kirche sucht (wieder) den offenen Dialog mit der Politik. So wie Pfarrer Bruno Bader schon einleitend bemerkte: «In vielen reformierten Kirchengemeinden ist es nicht mehr üblich, politische Fragen offen und kontrovers zu diskutieren. In der Regel kommen nur Vertreter der Kirchen und der Hilfswerke zu Wort. Wir wollen das heute Abend in gut reformatorischer Tradition anders halten und unterschiedliche Sichtweise hören.»

Das scheint an der Podiumsdiskussion gelungen zu sein: Regierungsrat Schnegg war keineswegs das «Feindbild», sondern es wurde der offene Dialog zwischen Politik und Kirche praktiziert und für die Zukunft auch weiterhin postuliert. Dies gilt genauso für die reformierte wie auch für die katholische Kirche, die an diesem Abend gemeinsam zum Dialog eingeladen hatten. Auch das Hilfsangebot der Kirchen an die Politik bei gesellschaftsrelevanten Problemen sollte genutzt werden. Somit endete der Abend nicht klingenwetzend, sondern mit ethisch wertvollen Vorsätzen für die Zukunft.


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