Wo ist das Mittelmass geblieben?

JENNY STERCHI
Ich bin umgeben von Schnellsten, Besten, Experten, Profis, Erfolgreichsten, Wichtigsten und Schönsten. An den Langsamen, Schlechten, Laien, Erfolglosen, Unwichtigen und Hässlichen sollte ich mich wohl besser nicht orientieren. Während sich die einen vor dem steigenden Kostendruck in allen Bereichen des Lebens fürchten, ist es für andere wichtig, Projekte möglichst kostenintensiv zu gestalten.

«Der verschwindende Durchschnitt ist handgemacht.» Steile These, aber ich wage sie dennoch zu stellen. Der Nachwuchs im Kindergarten lernt Buchstaben und Zahlen, statt zu spielen und zu toben. Die Fünfjährigen sollen zur Selbstreflexion erzogen werden. Der Beurteilungsbogen beim Kindergartengespräch erinnert eher an ein Assessment für einen Managerposten als an die Wertschätzung für einen Dreikäsehoch. In der Schule werden Konflikte in den Hintergrund diskutiert, statt das respektvolle Streiten zu lernen. Schnell und laut musst du sein, sonst bist du nur Mittelmass. Entweder weisst du nach Ende der Schulzeit, wie das Leben läuft und setzt dich – gehauen oder gestochen – durch oder du wirst zum exotischen gesellschaftlichen Randsteher. Alles, bloss kein Mittelmass. Wie vermisse ich den Durchschnitt, mit dessen Ideen man gut und produktiv arbeiten konnte. Ohne revolutionäre Ergebnisse zu erwarten, ohne stundenlang diskutieren zu müssen, aber dennoch miteinander das Leben zu begreifen. Für die Erfindungen, Entdeckungen, bahnbrechenden Erkenntnisse brauchen wir die echten Profis und wirklichen Experten – keine Frage. Und die unangepassten Paradiesvögel sorgen für eine lebhafte Gesellschaft – unverzichtbar. Die häufig beklagte Schere, mit der die Gesellschaft fortschreitend in zwei Klassen geteilt wird, ist wie eine Fortsetzung, ein Symptom. Auf diese philosophisch beinahe schwermütigen Gedanken werde ich mir einen Teller Spaghetti zum Mittagessen bereiten. Durchschnittlich, aber durchaus sättigend und in der Regel sehr fein.

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