Stan-dard

  25.09.2020 Leserbeitrag

Viele Menschen sind sich nicht mehr bewusst, was geschah, als die Sowjetunion zerbrach. Denn die Sowjetunion bestand bei Weitem nicht nur aus dem heutigen Russland. Der grösste Flecken, der sich aus der Sowjetunion in die Eigenständigkeit begab, liegt in Zentralasien: Kasachstan ist heute das flächenmässig neuntgrösste Land auf dieser Welt. Neben Kasachstan erlangten nach dem Ende der Sowjetunion noch vier weitere Länder in Zentralasien die Unabhängigkeit: Turkmenistan, Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan. Die Länder werden oft zusammengefasst als die Stan-Länder bezeichnet. Das ergibt zwar Sinn, wenn man die Namen betrachtet, aber nicht, wenn man weiss, wofür das -stan steht: Es heisst nichts anderes als «Land der». Die Ethnien der Turkmenen, Usbeken, Kirgisen und Tadschiken haben also ihre eigenen Länder bekommen.

Mich fasziniert an diesen Ländern aber etwas anderes als die Namensgebung. Dazu braucht es noch etwas Hintergrundwissen: Die Länder haben zwar ähnliche Namen, sind aber geografisch sehr unterschiedlich. Tadschikistan ist ein sehr gebirgiges Land, das zu weiten Teilen über 3000 Metern über Meer liegt sowie viele enge und praktisch unerschlossene Bergtäler vorweist. Kasachstan ist riesig und verfügt wie Turkmenistan über grosse Erdöl- und Erdgasvorkommen, die den Ländern ein einträgliches Auskommen ermöglichen. Usbekistan war früher ein Landstrich, der zu wesentlichen Teilen vom Handel lebte, weil die Seidenstrasse aus China nach Westeuropa durch seine Oasenstädte wie Samarkand verlief. Zudem verfügt Usbekistan über eine respektable Seidenindustrie. Kirgistan wiederum wurde lange Zeit von Nomaden bewohnt, was sich heute noch in der Lebensweise der Kirgisen niederschlägt. Alle Länder wurden aber auch von der Sowjetpolitik geprägt, die viele lokale Bräuche restlos zerstörte, viele Opern und Ballette baute und versuchte, durch Umleiten von Flüssen in diesen Ländern eine Baumwollindustrie zu schaffen, die das Land von Importen aus dem Süden der USA unabhängig machen sollte (und mit diesem Umleiten wurde en passant das Schicksal des Aralsees besiegelt).

Eine grosse Gemeinsamkeit haben die Länder aber: Sie alle werden von Diktatoren beherrscht. In den gut 30 Jahren ihrer Unabhängigkeit gab es keinen einzigen Präsidentenwechsel, der nicht auf Wahlmanipulation oder eine Revolution zurückzuführen ist! Die Revolutionen gab es zudem nur in Kirgistan, das verhältnismässig freieste Land der fünf Länder.

Und die Gemeinsamkeiten hören dabei nicht auf: Die Stan-Diktatoren haben nämlich eine Gemeinsamkeit. Sie alle hatten in der Sowjetunion eine Politikkarriere hingelegt, bevor sie ihr eigenes Land übernommen haben. Sie setzen also eigentlich nur den Kurs fort, den sie von klein auf gelernt haben.

Das zeigt aus meiner Sicht auf, wie träge sich politische Veränderungen auf die Lebensbedingungen der Menschen auswirken können. Es braucht Generationen von Politikern, bis sich überhaupt die Chance ergibt, dass aus einer Diktatur eine stabile Demokratie entstehen kann. Oder wenigstens ein politisches System, dass die Bewohner nicht unterdrückt und nicht systematisch korrupt ist.

Und das wiederum hat eine ganz brutale Erkenntnis zur Konsequenz: Wenn sich heute jemand in einem Unrechtsstaat für mehr Fairness einsetzt, wird das fast sicher keine Auswirkungen auf die Lebensumstände der entsprechenden Person haben, sondern höchstens für die Enkelgeneration. Umso mehr Respekt habe ich vor den Menschen, die sich für so eine Sache einsetzen.

SEBASTIAN DÜRST
[email protected]


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