Der positive Stress des Lebens

  20.10.2020 Porträt, Serie

Der Macher: Heinz Addor übernahm vor 39 Jahren die Geschäftsführung der Firma seines Vaters – heute ist er deren äusserst erfolgreicher Inhaber. Doch mit seinem vollgestopften Alltag würden wohl die wenigsten fertig werden.

NADINE HAGER
Verschmitzt lächelt mich Heinz Addor an, während ich ihm in seinem freundlich eingerichteten Einzelbüro im Dachgeschoss gegenübersitze. Soeben hat er seinen Alltag – ja eigentlich sein ganzes Leben – als «positiven Stress» bezeichnet. Sein Blick fixiert mich klar und hellwach über die filigrane Lesebrille hinweg. Es ist der charismatisch-wohlwollende Blick eines unternehmerischen Gipfelstürmers.

Heinz Addor machte nie eine Lehre. Stattdessen fuhr er schon von Kindsbeinen an Baumaschinen und machte seine Lastwagenprüfung, so früh er konnte. 1981 übernahm er die Geschäftsführung der Firma Addor Gstaad von seinem Vater – es waren zehn Angestellte beschäftigt – und seit 1993 ist er deren alleiniger Eigentümer. Der frischgebackene Geschäftsmann machte etwas daraus: Beispielsweise kaufte er 2010 die Firma Gehret AG mit 13 Arbeitnehmern. Heute zählt Addor Gstaad an die 60 Mitarbeitende und auch internationale Aufträge werden abgewickelt. «Ich zog immer weiter am Karren und wollte nicht stehenbleiben», erklärt er mir. Besonders vor 10 bis 15 Jahren begann er, richtig Gas zu geben: Damals zeichnete sich ab, dass seine beiden Kinder die Firma übernehmen würden. «Ich wollte etwas erreichen», sagt er mit fester Stimme. Und das hat er. Entspannt lehnt er sich in seinem Bürostuhl zurück und nimmt mehr Raum ein in seinem Büro, seinem Reich. Trotz seines Erfolgs bleibt er bescheiden. «Ich würde heute nicht hier stehen ohne meine starke, mich unterstützende Frau, meine Kinder, meine treuen Kunden und meine guten Mitarbeiter.» Ein Schmunzeln vertieft seine Lachfalten.

Peter Zumbrunnen war es, der ihn für die Serie «Alltagshelden» nominierte, und dies eben nicht nur, weil er sich so viel erarbeitet hat – ohne Lehre als Grundlage – sondern auch seiner Bescheidenheit wegen. «Heinz Addor ist trotz seines Erfolges ein Lauener geblieben. Er ist Heinz Addor geblieben», fasste er zusammen, weshalb er seinen Freund als Alltagshelden in der Zeitung sehen wollte.

In der Tat geniesst Heinz Addor einen grossen Komfort. «Wenn man alles hat, dann belastet einen auch nichts. Alles ist gut, ich bin sehr zufrieden: Die Ehe läuft, die Kinder haben sich gut entwickelt, finanziell sind wir abgesichert.» Dahinter steckt viel Arbeit.

Bis Heinz Addors Frau vor 28 Jahren in die Firma einstieg, führte er die Firma ganz allein – während sie ständig weiterwuchs. Und als wäre ein Unternehmen im Wachstum als alleiniger Besitzer und Entscheidungsträger nicht schon Arbeit genug, war er nicht einfach nur Geschäftsführer, sondern gleichzeitig auch Bauführer und Administrator – leitete Baustellen, führte Verhandlungen, verabredete sich mit Kunden, regelte den Ankauf des Inventars, schrieb Offerten, und so weiter und so fort. Doch das war Heinz Addor anscheinend noch nicht genug. Er engagierte sich nämlich auch in Freizeitvereinen, im Gemeinderat und in anderen Firmen – all das als Alleinunternehmer.

Trotzdem: So etwas wie eine Überarbeitung kann ich in seinem Gesicht nicht lesen, während er dasitzt, als hätte er den ganzen Tag Zeit, und dabei lebhaft seinen Bleistift zwischen den Fingern dreht. Ich lasse den Blick über sein Büro schweifen: Es ist voller Modelllastwagen seines Betriebs, Fotos und Poster der Baumaschinen hängen an jedem freien Fleckchen Wand. Hierhin gehört er, darauf hat er hingearbeitet. Allein.

«Ich habe nie jemanden fragen können. Ich habe entschieden, und so wars.» Heinz Addors Augen beginnen zu funkeln, als er darüber spricht. «Jetzt ist es umso schöner, wenn ich sehe, was ich auf die Beine gestellt habe. Es gibt mir eine Befriedigung, sagen zu können: Das ist alles meins.» Doch die Zeit des Abschieds rückt näher: Das Ende seiner Arbeit in Form einer Pensionierung kommt in Sichtweite. Und er heisst es willkommen. «Ich fühle mich vom Alter her noch nicht wie kurz vor der Pensionierung. Aber – und das habe ich mir hinter die Ohren geschrieben», er legt die Stirn leicht in Falten und richtet sich auf, «fertig, Schluss mit 65!» Genug ist genug. Er hat genug «gwärchet». Jetzt freut er sich auf eine neue Zeit, «die Zeit, zu leben», wie er sie nennt. Auf vieles mussten er und seine Frau bisher verzichten – die Weltreise steht beispielsweise noch aus. «Nach der Pensionierung möchte ich auf nichts verzichten und alles nachholen, das bisher keinen Platz hatte.» Besonders freut er sich darauf, Zeit mit seinem Grosskind zu verbringen, das im Mai zur Welt gekommen ist.

Doch Hand aufs Herz: Heinz Addor plus Nichtstun – geht das denn? Er winkt entschieden ab. «Vom einen Tag auf den anderen am Morgen aufzustehen und einfach nicht mehr zu wissen, was zu tun ist – am Abend zu Bett gehen und nicht zu wissen, was morgen ansteht…» Er lässt den Satz unbeendet. Doch ich verstehe: Das wäre undenkbar! Heinz Addor hat aber schon jetzt einen Vorsorgeplan gegen Langeweile. Da seine beiden Kinder die Firma übernehmen, werden sie hin und wieder seine Unterstützung gebrauchen können. «Nach der Pensionierung kann ich vielleicht ab und an als Aushilfe Lastwagen oder Bagger fahren. Das mache ich nämlich sehr gerne – und dafür fehlt mir im Moment einfach die Zeit.»

Wir stellen Ihnen Menschen vor, die jenseits der Schlagzeilen die Geschichte des Saanenlandes mitschreiben. Leute, die im Hintergrund Fäden spannen, ihr Umfeld mit ihrer Art bereichern oder ganz einfach anders sind. Die Serie rollt wie ein Schneeball durch die Region, denn die Porträtierten wählen jeweils selbst einen/eine Nachfolger/in. Auf Wunsch von Heinz Annen besuchen wir als Nächstes Ruth Lüthi.


ZUR PERSON

Heinz Addor ist 62 Jahre alt und Lauener durch und durch: Dort ist er aufgewachsen, dort lebt er noch immer. Mit 13 Jahren erlernte er das Führen von Baumaschinen – von da an war für ihn klar, dass er die Baufirma Addor Gstaad seines Vaters übernehmen würde. Er ist mit Ruth Addor verheiratet, welche seit 28 Jahren im Unternehmen für den administrativen Bereich zuständig ist. Die gemeinsamen Kinder Daniela und Patrick Addor sind zurzeit dabei, seine Firma zu übernehmen und die Nachfolge ihrer Eltern anzutreten.


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote