Erzähl mir eine Geschichte!

  16.10.2020 Kultur

Fantasie, Kreativität, Selbstwertgefühl – einem Kind Geschichten zu erzählen ist mit dem sorgfältigen Setzen unterschiedlichster Blumensamen zu vergleichen, aus denen langsam zahlreiche Fähigkeiten heranwachsen können. Mut zum Erzählen lohnt sich!

NADINE HAGER
Der Bericht von den zweiwöchigen Ferien, die Botschaften sämtlicher Werbeplakate, der Ausdruck eines Gesichts oder die Handlung eines Films ... Geschichten sind überall, sie umgeben und prägen uns. Was so alltäglich ist, dass wir uns dessen kaum bewusst sind, ist ein essenzieller Teil unseres Menschseins. Genau deshalb sind Geschichten für Kinder von unermesslicher Bedeutung – und bilden nicht nur das Sprungbrett in die eigene Lesekompetenz, sondern sind auch Schlüssel zu tiefer liegenden Fähigkeiten.

Gemütlich eingekuschelt
Stephanie Iseli ist Basisstufenlehrkraft sowie Kindergärtnerin in Saanen und hat lange Zeit als Bibliothekarin gearbeitet. Bücher und Geschichten sind ihre Leidenschaft – die mit Bilderbüchern gefüllte Wand zu Hause ihr grösster Schatz. Kein Wunder also, dass sie auch grosse Begeisterung dafür empfindet, Kindern Geschichten vorzulesen und zu erzählen. «Geschichten sind ein wunderschöner Ausdruck von Innigkeit zwischen Zuhörer und Erzähler. Durch das Geschichtenerzählen wird die Fantasie angeregt und jedes Kind kann hinter den Worten und Bildern selbst etwas sehen», sagt sie im Interview. Man stelle sich vor: Mutter und oder Vater mit ihrem Kleinkind in der heimeligen Leseecke, gemütlich eingekuschelt mit einem Bilderbuch in der Hand. «Das Erzählen von Geschichten ist dann am schönsten, wenn die Mutter oder der Vater sich wirklich Zeit nehmen; Zeit nehmen dafür, dem Kind immer wieder Fragen zu stellen und über Wörter, Bilder und ihre Bedeutung nachzudenken. Wenn sie dem Kind die Möglichkeit geben, die Geschichte selber weiterzuspinnen oder eigene Gedanken zu äussern.»

Besonders mit Büchern sei dieses liebevolle, lernende Miteinander möglich: Zwar seien auch CDs oder das Fernsehen eine Möglichkeit, doch das Kind würde dabei nur konsumieren – ohne eigene Denkleistung oder Handlung.

Sprungbrett für die Entwicklung
Das Geschichtenerzählen, welches das Kind aktiv einbindet, ist ein wichtiger Nährboden für verschiedenste Fähigkeiten. Nicht nur findet es dadurch den Zugang zu seiner eigenen Fantasie und lernt, selbst kreativ zu werden – es kann dadurch auch mehr Selbstvertrauen entwickeln. «In der kreativen Erzählsituation gibt es kein ‹richtig› und kein ‹falsch›. Dem Kind kann gezeigt werden, dass seine eigene Interpretation der Geschichte und die persönliche Fantasie so gut sind, wie sie sind.» Mit der riesigen Auswahl an verfügbaren Bilderbüchern könne das Kleinkind auch darin unterstützt werden, seinen Alltag bewusster anzugehen: Themen wie Freundschaft, Trauer- und Konfliktbewältigung können durch Bilderbücher eingängig und einfach nahegebracht werden. Und nicht zuletzt wird so auch die Lesekompetenz gefördert. Wenn das Kind Wörter und Sätze sieht und gleichzeitig hört, wie die Mutter oder der Vater diese aussprechen, kann es Buchstaben mit Lauten verknüpfen. Damit ist der Grundbaustein für das Erlernen des Lesens bereits gelegt.

Unterstützung ohne Zwang
Trotz dem Vorsatz, das eigene Kind im Lesen zu fördern, ist es laut Stephanie Iseli jedoch sehr wichtig, ihm das Lesenlernen nicht aufzuzwingen. «Wenn ein Kind von sich aus in die Welt der Buchstaben gehen will, können die Eltern dies unterstützen. Aber ich finde es nicht gut, wenn man die Kinder forciert.» Man könne jedoch Neugier schüren: «Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht,aber man kann eine gute Umgebung für das Wachsen von Gras schaffen: Bücher vorlesen, erzählen, Raum schaffen für Buchstaben.» Es helfe bereits, wenn die Eltern als Vorbild fungieren – wenn zu Hause Zeitungen herumliegen und Mutter oder Vater sich selbst manchmal zum Schmökern zurückziehen.

Haben Sie Mut!
Kinder können unglaublich viel aus Geschichten, die ihnen erzählt oder vorgelesen werden, mitnehmen. Trotzdem beobachtet Stephanie Iseli etwas Schüchternheit unter den Eltern: «Vielfach merke ich, dass die Eltern sich nicht zutrauen, etwas zu erzählen oder vorzulesen – weil sie denken, dass sie es nicht können.» Es sei jedoch von sehr grosser Bedeutung, Kinder von klein auf mit der Sprache – und sei es auf noch so einfachen Wegen – vertraut zu machen. Und selbst wenn man sich nicht mit dem Vorlesen anfreunden könne, so gäbe es noch immer die Möglichkeit, zu Bildern einfach frei eine Geschichte zu erfinden. «Ich ermuntere die Eltern dazu, Mut zum Geschichtenerzählen zu schöpfen. Das Kind wertet nicht! Es ist mit Menschen zusammen, die es gerne mag, es herrscht eine innige Stimmung und man kümmert sich umeinander. Es ist völlig zweitrangig, wie professionell die Geschichte erzählt wird: Man kann nichts falsch machen.»

Herbst und Winter stehen vor der Tür, die kuschelige Zurückziehzeit. Und wer weiss, vielleicht ist es ja eine Zeit, mit den eigenen Kindern ein Buch hervorzuholen – um gemeinsam das Tor zu Fantasiewelten und Kreativität aufzustossen.

Stephanie Iseli ist als Erzählerin am 17. Oktober von 10 Uhr bis 10.45 Uhr im Kirchgemeindehaus Gstaad anzutreffen. Jedes Kind ist willkommen, in die Welt von Helme Heine in seiner Geschichte über wahre Freundschaft einzutauchen!


ZUR PERSON

Stephanie Iseli hat 26 Jahre lang in der Ausleihe einer Bibliothek gearbeitet und schon damals drei- bis viermal pro Jahr öffentlich Geschichten erzählt – auch Erwachsenen, wie zum Beispiel im Rahmen des Literarischen Adventskalenders. Aktuell arbeitet sie als Lehrerin an der Unterstufe in Saanen, wo sie den Zyklus 1 betreut. Sehr gerne nutzt sie dabei Geschichten, um Kindern Lerninhalte zu vermitteln – oder taucht mit ihnen ab in die «Faszination Bibliothek».


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