Im Saanenland aufgewachsen und jetzt …

  16.10.2020 Serie

Das Saanenland war und ist geprägt von Zu- und Wegzügen. Die Leserinnen und Leser des «Anzeigers von Saanen» sind nicht nur im Saanenland zu finden, sondern in der Schweiz und im Ausland – ja, in der ganzen Welt. Diese «Auswanderer» will «Im Saanenland aufgewachsen und jetzt …» vorstellen.

Willibenz Jaggi (WBJ) und ich sind uns einig: Wir beginnen unser Gespräch im Alten Tramdepot in Bern mit dem Arnensee. Dort hat der junge Willibenz seine Sommer verbracht, bis er zehn Jahre alt war. Die schönste Zeit seiner Jugend, versichert er. Mit einem See ohne Staumauer, mit der Matte beim Ausfluss, mit Onkel Matthäus’ kleiner Wirtschaft am See und mit Vaters Ruderboot für die Gäste. Werner Jaggi hatte als Lehrer drei Monate Sommerferien, ging mit seinem Bruder Matthäus «zBärg» im Stuedeli und war im Herzen vielleicht eben so sehr Bauer wie Lehrer gewesen, meint sein Sohn. Als Willibenz in Gstaad die Sekundarschule besuchte, begannen die Bauarbeiten am Arnenseestaudamm und die Familie lebte im Sommer in der Engevorsass bei Lauenen. «Die paar Wochen, in denen ich den Schulweg von der Enge ins Ebnit mit dem Velo bewältigen musste, führten zu einer Verbesserung meiner Grundkondition, von der ich später noch in der Rekrutenschule und in der OS zehren konnte.»

Neuenburg
Fünfzehn Jahre alt, zog WBJ von Zuhause weg, nach Cressier (NE) ins damals bis ins Gstaad bekannte Internat Clos Rousseau. «Meinem Vater waren Sprachkenntnisse sehr wichtig.» Dieses Internatsjahr rechnete die Ecole de Commerce de Neuchâtel dem zukünftigen Schüler an. Die drei Jahre Neuenburg hat er genossen: Das welsche Flair, die Stadt voller Studierenden, Aufgaben machen bis 21 Uhr und dann in den Ausgang, zum Beispiel an den Stamm am Dienstagabend. Der Deutschlehrer hiess übrigens Keckeis und war der Vater des späteren Armeechefs.

Bern und Bellinzona
Mit der Handelsmatur im Sack und dem aufkeimenden Interesse an der Volkswirtschaft begann WBJ sein Wirtschaftsstudium in Bern. Das Geld dazu und für das Mansardenzimmer in der Hauptstadt verdiente er sich weitgehend selber: in Gstaad als Skilehrer – mit viel Vergnügen im Umgang mit den Gästen – und als Werkstudent bei IBM. Vergnüglich auch die Treffen der Saanergruppe im Berner Klötzlikeller. Sein Studium schloss WBJ mit einem Lizentiat der Wirtschaftswissenschaften und mit «magna cum laude», mit grossem Lob ab: «Obwohl ich mit meinen vielen Nebenbeschäftigungen kein Modellstudent war.» Im Volkswirtschaftsdepartement des Bundes fand er seine erste Stelle. Die Arbeit dort unterbrach er zum Abverdienen des Hauptmanns. Die Fahrt mit dem Zug zu den Gebirgsinfanteristen nach Bellinzona dauerte siebeneinhalb Stunden, für den Rekruten, den Unteroffizier, den abverdienenden Leutnant wie für den angehenden Hauptmann Jaggi. Immerhin lernte er damit das Tessin kennen.

Washington D.C.
Die Handelsabteilung des Bundes sandte ihn schon nach drei Monaten alleine an Verhandlungen an die OECD nach Paris. «Ich wurde ins kalte Wasser geworfen. Zum Glück konnte ich fliessend französisch und englisch sprechen. Letzteres hatte sich auch dank meinen Skigästen verbessert.» Ab 1979 arbeitete er zwei Jahre in Washington D.C. als Handelsattaché, half und unterstützte dabei Schweizer Unternehmen. «Ich intervenierte zum Beispiel erfolgreich bei der amerikanischen Drug and Food Administration, als diese homöopathische Mittel aus der Schweiz verbieten, aber einheimische Produkte weiter zulassen wollte, was diskriminierend war. Oder ich musste mich um Fälschungen des schweizerischen Sackmessers kümmern.»

Madagaskar und Kyoto
«Für meine Familie, meine Frau und die beiden Söhne bedeutete die Zeit in den USA das Paradies. Der eine Sohn wurde sogar Klassensprecher in seiner Schule. Sie wären gerne länger geblieben, aber ich musste Ende 1981 zurück in der Schweiz sein, um das Kommando des Oberländer Gebirgs Füsilier Bataillon 34 zu übernehmen.» Als Sektionschef im Bundesamt für Aussenwirtschaft betreute WBJ anschliessend die Handelsbeziehungen der Schweiz zu den aussereuropäischen Industrieländern: USA, Kanada, Japan, Neuseeland, Australien und Südafrika. Vier Jahre später wurde er Chef des Dienstes zur Förderung der Wirtschaft der Entwicklungsländer mit Finanzhilfen, Krediten, Investitionen und Handel. Das bedeutete viele Reisen und Abwesenheit von der Familie. «So habe ich einmal Bundesrat Felber nach Madagaskar begleitet und bin dann direkt weiter an eine Sitzung der Weltbank nach Kyoto geflogen. Als Chef dieses Dienstes hatte ich enge Kontakte zu Mitarbeitern der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit des EDA, die ich im Sommer in der Mittagspause auch oft beim Aareschwimmen im Marzili zu einem informellen Austausch traf.»

Bern, Exportrisikogarantie und Exportförderung
«Die projektbezogene Entwicklungszusammenarbeit verliess ich nur ungern, der Beförderung zum Vizedirektor für den Bereich Exportförderung und Exportrisikogarantie konnte ich aber nicht widerstehen … umso mehr als dieser Posten mit einem Büro im Bundeshaus mit Blick auf das Marzili belohnt wurde», bemerkt Willibenz lachend. Er übernahm damit die Verantwortung für die zwei Instrumente, mit denen der Bund die Exportwirtschaft und ihre Organisationen direkt unterstützt. Dabei ging es – und geht es immer noch – darum, diese Unterstützung so auszurichten und auf einem Niveau zu erhalten, dass unsere Firmen annähernd mit gleich langen Spiessen kämpfen können wie ihre ausländische Konkurrenz.

London
Die Familie hatte mittlerweile in Hilterfingen Wurzeln geschlagen. Als die beiden Söhne ausgezogen waren und Willibenz keine militärischen Verpflichtungen mehr hatte, zog es ihn aber wieder ins Ausland. Der Bundesrat ernannte ihn 1997 zum schweizerischen Exekutivdirektor bei der europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London. Die Aufgabe, die Transition von Kommando- zu Marktwirtschaften zu unterstützen, faszinierte ihn. Er lernte auch die zentralasiatischen Länder Usbekistan, Kirgistan, Turkmenistan und Aserbaidschan kennen, die zur Stimmrechtsgruppe der Schweiz gehörten. «Ich war beeindruckt von der Gastfreundschaft der Bevölkerung, der Kultur und natürlichen den Schönheiten dieser Länder. Mit Bezug auf die postsowjetischen, autokratischen Regierungen in dieser Region kann ich aber der Analyse von Sebastian Dürst in seiner Kolumne im Anzeiger leider nur zustimmen.»

Paris
Auf London folgte Paris. WBJ wurde 2001 zum Botschafter der Schweiz bei der OECD berufen. Die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist ein Forum gleichgesinnter Länder, das sich der Demokratie und der Marktwirtschaft verpflichtet fühlt und die Wirtschaftsund Sozialpolitiken der Mitgliedsländer entwickelt, analysiert, diskutiert und verfeinert (www.oecd.org). In der OECD-Botschaft der Schweiz, der Residenz, gab es Personal – Koch, Haushaltshilfe und bei Empfängen und Diners Kellner, deren Führung der Botschaftsgattin oblag, was für sie Neuland bedeutete. WBJ hatte andere Sorgen: Er musste sich u.a. – damals noch erfolgreich – für das schweizerische Bankgeheimnis einsetzen, die schweizerische Landwirtschaftspolitik verteidigen oder unser Berufsbildungssystem erklären, das von der OECD kritisch bewertet und erst ein paar Jahre später zum «Exportschlager» wurde. Seine Kollegen wählten den «neutralen» Binnenschweizer auch zum Präsidenten der Arbeitsgruppe für Schiffbau. An dieser Stelle im Gespräch schloss sich der Kreis zu Vaters Ruderboot auf dem Arnensee.

Im Saanenland Urvertrauen gewonnen
Also Zeit für einen Rück- und einen Ausblick. «Die Liebe meiner Eltern, das Elternhaus und die Umgebung haben mir ein gesundes Urvertrauen gegeben. Ich bin und bleibe im Saanenland verwurzelt,» sagt WBJ. Nach all den Reisen, den verschiedenen Wohnorten: Er spricht immer noch ein unverfälschtes Saanendeutsch, ist oft im Saanenland, sein Herz schlägt höher, wenn er über die Saanenmöser fährt und sich das Tal vor seinen Augen auftut. Er hat auch kürzlich als heimatberechtigter Gsteiger das Buch «Mit dem Rücken zum Fenster: Johann Jakob Romangs Kampf gegen Berner Obrigkeiten» von Hans Raaflaub wieder gelesen. Hat er einen Rat für die Region bereit? «Ich zitiere Niklaus von der Flüe: ‹Stecket den Zun nid zwyt!› Setzt auf qualitatives Wachstum, um das einzigartige Landschaftsbild und das Gleichgewicht von Landwirtschaft und Tourismus zu bewahren.»

Erfolgsfaktoren
WBJs Laufbahn ist beeindruckend. Was half beim Gelingen? «Als Student war ich eher lernfaul, was ich aber mit einer raschen Auffassungsgabe und mit einem guten Gedächtnis wettmachen konnte. Leistungsorientiert wurde ich erst im Berufsleben. Ich übernahm gerne Verantwortung und blieb auch in Druckphasen ruhig. Dazu trug auch meine militärische Ausbildung und Erfahrung bei. Ich gehörte noch zur Generation, bei der zivile und militärische Karriere sich gegenseitig ‹beförderten›. Dazu durfte ich immer wieder in neue Aufgaben hineinwachsen. Motivierend war natürlich, mich für die wirtschaftlichen Interessen der Schweiz einsetzen zu können.» Im Nachsatz sinniert Willibenz: «Nüchtern betrachtet hat aber mein Vater als Lehrer an einer Schule mit fünf Klassen in seinem Leben wohl nachhaltigere Spuren hinterlassen …»

Entgeisterte Leibwächter
Bis jetzt ist das Gespräch nicht ins Episodenhafte abgeglitten. Dennoch, eine interessante Geschichte zum Abschluss sollte schon sein: «Bundespräsident Deiss kam nach Paris zur OECD-Ministerkonferenz und ich musste ihn am Flughafen abholen. Mein Chauffeur und ich steckten aber auf der Autobahn im Stau. Wir sassen wie auf Kohlen: Der Bundespräsident landet und niemand ist da, um ihn zu empfangen. Da kam meinem Assistenten die rettende Idee. Er rief die Motorradeskorte an, welche schon am Flugplatz wartete. Zwei Polizisten auf Motorräder fuhren uns entgegen und navigierten uns elegant durch den Verkehrstau. Am Abend wurde der Bundespräsident von den französischen Leibwächtern auf ihren Motorrädern auch in sein Hotel begleitet. Dort angekommen, informierte er diese, dass er mit uns nun noch zu Fuss zum Boulevard St. Germain zu einem gemeinsamen Schlummertrunk gehe. Ein Staatschef zu Fuss? Die Leibwächter schauten ihn entgeistert an – begleiteten uns dann aber hin und zurück.»

THOMAS RAAFLAUB


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