So macht der Kanton Millionäre

  27.10.2020 Leserbriefe

Als der Berner Herrgott wieder mal seine Engel zum Rapport versammelte und ihnen klagte, wie schwierig es geworden sei, die stets steigenden finanziellen Verpflichtungen noch erfüllen zu können, meldete sich ein vorwitziges kleines Engelchen und meinte: «Warum diese Besorgnis? In unserem Kanton hat es doch so viel privates Wohneigentum, das sich mühelos zum geldsch … Esel machen lässt. Lasst uns zugunsten der Steuereinahmen auf dem Papier die Ertragsund Vermögenswerte all dieser Objekte auf die ortsüblichen Verkaufspreise anheben. Dies hat in verschiedener Hinsicht Vorteile. Vor allem die Tourismusorte, wo Multimillionäre und Milliardäre den Ton angeben und die Preise enorm in die Höhe treiben, lässt sich so viel zusätzliches Steuersubstrat generieren. Wenn die ärmeren kleinen Wohnungsbesitzer diese Steuerlast nicht mehr zu stemmen vermögen und verkaufen müssen, spült dies weitere Gewinnsteuern in die Gemeindekasse, von denen sie ja auch uns wieder abliefert. Damit erübrigt sich auch die Diskussion, ob ärmere Leute ohne Barvermögen, aber eigenem alten einfachen Wohnhaus ergänzungsleistungsberechtigt sind. Und das Kapital, das die kleinen Leute aus ihren Liegenschaftsverkäufen erhalten, stellt sicher, dass diese nicht etwa noch auf der Fürsorge landen». Da klatschte die Mehrheit der Engel Beifall und der Berner Gottvater nickte wohlwollend und sprach: «So geschehe es – amen!»

Haben diese applaudierenden Engel aber vielleicht übersehen, dass es da ausser der finanziellen auch noch eine menschlich wichtige Komponente gibt: Die Entwurzelung der weniger begüterten einheimischen Bevölkerung. Können diese Engel garantieren, dass die zu Zwangsverkäufen Gezwungenen in ihrer engeren Heimat noch eine Wohnmöglichkeit mit gleichwertiger Lebensqualität finden? Offensichtlich begrüssen sie es, wenn die Plätze der ärmeren Einheimischen von reichen auswärtigen «Regenten» eingenommen werden. Und die Gemeindebehörden, die seit über einem halben Jahrhundert das Bodenspekulationstreiben toleriert und sogar noch aktiv unterstützt haben, scheinen sich zurzeit mutlos hinter den kantonalen Vorgaben zu verstecken. Bereits Friedrich Schiller hat in seinem «Wilhelm Tell» darauf hingewiesen, wie einheimische «Führer» stets in Gefahr sind, mit den auswärtigen Vögten zu kollaborieren, weil sie sich davon persönliche Vorteile versprechen. Und dies scheint auch in Saanen nicht anders zu sein.

Seit unser einst stolzer und wirtschaftlich recht gut dastehender Kanton vor mehreren Jahrzehnten durch wirtschaftspolitisches Missmanagement (Martignoni und Co. lassen grüssen) zunehmend zum Armenhaus und zur Steuerhölle unter den Kantonen geworden ist, glänzt er immer wieder mit teils eher unbeholfenen Entscheiden, die (vielleicht zu Recht) gewisse Minderwertigkeitsgefühle zum Ausdruck bringen. Als ich jung war, galt jeder Angriff aufs Privatvermögen als kommunistisch motiviert. Heute sind es «bürgerlich» dominierte Parlamente und Regierungen, die eine Umverteilung des Eigentums vom unteren Mittelstand zur finanziellen «Elite» vorantreiben. Dass unsere Gesetze es offenbar zulassen, die (Papier-)Werte der nicht landwirtschaftlichen Liegenschaften auf einen Schlag ums Dreifache zu erhöhen, lässt mich an unserer Rechtsstaatlichkeit zweifeln. Eine Tendenz, die mich an den Beginn der Enteignungspraxis kommunistischer Regime erinnert. Armer, bürgerlicher Kanton Bern, der sich mit solchen Machenschaften «Autorität» verschaffen muss!

GOTTFRIED VON SIEBENTHAL, AESCHI B.SPIEZ


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