Bolivianische Weihnachten

  29.12.2020 Leserbeitrag

Die Jungen und Mädchen von Tres Soles schnuppern schon den ganzen Tag misstrauisch Richtung Küche, aus der seit den frühen Morgenstunden ein seltsamer süss-säuerlicher Geruch strömt. Sebastian und André, zwei deutsche Zivildienstleistende, haben versprochen, ein Weihnachtsessen zu kochen, nur sie beide, und nun haben sie sich in der Küche verbarrikadiert und niemand darf sich einmischen. «Was brauen die da zusammen?», fragt sich Fabiana. Sie wischt sich den Schweiss von der Stirn und stellt liebevoll eine Königsfigur in die Krippe, die soeben im Hof aufgebaut wird. Es ist der 24. Dezember und es herrschen jetzt, zu Beginn der Regenzeit, auf der südlichen Erdhalbkugel über 30 Grad. Diese Temperaturen haben nicht das Geringste gemein mit jenem tief verschneiten Schloss unter dem strahlenden Winterhimmel, das wir auf dem Adventskalender gesehen haben. Hier fällt Weihnachten mitten in den Sommer, daran müssen sich Europäer erst gewöhnen, auch wenn in Europa im Winter oder zur Weihnachtszeit nicht immer der Schnee so dick liegt, wie es so mancher Adventskalender zeigt. «Die sollten doch wissen, dass wir am Heiligen Abend immer Picana essen …»

«Ja, die Freiwilligen und ihre Experimente!», brummt Manuel und nimmt ein kleines Schaf aus einer Schachtel. In Bolivien ist es Brauch, an Weihnachten vor allem Krippen aufzustellen. Weihnachtsbäume sind praktisch nur in Geschäften und in den Vierteln der Reichen zu sehen. «Gib mir noch etwas von dem Moos, Manuel – oder nein, besser etwas von dem eingefärbten Sägemehl, um es zwischen die Tiere zu streuen», bittet Ruth und wirft die Haare zurück. Ständig fallen sie ihr ins Gesicht, doch sie behauptet, das sei momentan in Mode. Die Krippe muss schön verziert werden – mit Stroh, mit Baumzweigen und Felsen aus Pappmaché, das ist wichtig, damit sich das Christkind wie zu Hause fühlt und Glück bringt. Die eigentliche Krippe bleibt jedoch noch leer. Das Christkind muss noch eingepackt in seiner Schachtel warten, genauso wie das Weihnachtsessen, denn vorher besucht man die Mitternachtsmesse. Mehr als 80 Prozent der bolivianischen Bevölkerung ist katholisch. Die Mitternachtsmesse ist eine der meistbesuchten Messen des Jahres, obwohl sie eigentlich keine Mitternachtsmesse im Sinn des Wortes ist. An den meisten Orten findet sie um neun oder zehn Uhr abends statt. Alle bringen ihre Christkinder mit, gebettet in Körbchen und Schachteln. Auch die Kinder und Jugendlichen von Tres Soles erscheinen «bis zum letzten Floh», wie sie zu sagen pflegen. Auf den Stufen zum Altar liegen über 100 Christkinder in verschiedenen Grössen und Farben, einige rosa, andere kupferbraun wie die Menschen hier. Einige sind nur mit Windeln bekleidet, andere mit Spitzenkleidchen und wieder andere mit kleinen handgewebten Ponchos und den typischen, bunten Zipfelmützen mit Ohrenklappen. Während der Messe werden sie alle mit Weihwasser besprengt, was ein sehr berührender Moment ist. In unserer Kirchengemeinde führen wir in dieser Messe ausserdem immer eine Inszenierung der Weihnachtsgeschichte auf, an der auch einige Kinder und Jugendliche von Tres Soles teilnehmen. Die Kleinsten, die «Flöhe», schauen sich die Aufführung nur an und schlafen dann meist auf den Kirchenbänken ein.

Nach dem Ende der Messe eilen alle mit den geweihten Christkindern nach Hause, denn genau um Mitternacht müssen sie in den Krippen liegen. Um Mitternacht beginnt nämlich der Geburtstag des Christkindes, das ist Tradition. Alle Anwesenden umarmen sich und wünschen sich frohe Weihnachten. Anschliessend setzt man sich an den festlich geschmückten Tisch und isst die Picana. Picana ist ein typisches Weihnachtsessen. Eigentlich ist es eine Suppe, zubereitet mit Hühner- und Rindfleisch, Kartoffeln und einem Maiskolben. Überall in Bolivien sitzt man vor einer Picana, nur in Tres Soles nicht. In Tres Soles sitzt man vor gefüllten Enten mit Rotkohl, die Sebastian und André den ganzen Tag zubereitet haben, um den Jungen und Mädchen eine besondere Freude zu machen. Schon vor Wochen haben sie sich das Rezept von Muttern schicken lassen, haben Stunden und Tage auf Märkten und in Supermärkten verbracht, um die Zutaten zu organisieren. Man kann nicht gerade behaupten, dass Ente und Rotkohl zu den alltäglichen Speisen der Bolivianer gehören. Nun schauen alle etwas betreten auf den roten Berg auf ihrem Teller. «Ich habs geahnt, ein Experiment …», murmelt Fabiana, zieht die Augenbrauen in die Höhe, wie sie das immer tut, wenn sie unzufrieden ist, und stochert unschlüssig darin herum.

«Und? Schmeckts?», fragt Sebastian strahlend und mit vollem Mund. Er spricht noch nicht so gut spanisch und versteht demzufolge noch nicht alles.

«Natürlich!», antworten alle artig im Chor. Die gefüllten Enten – die eigentlich eine gefüllte Gans hätte sein sollen – sind gerade noch mit Llajua zu ertragen. Llajua ist die scharfe, rote Sauce, die hier bei keinem Essen fehlen darf. Der Rotkohl bleibt jedoch zumeist unrühmlich auf den Tellern liegen. Zum Glück haben Sebastian und André die Marroni, die dazu gehören, nirgends auftreiben können. Umso heisshungriger stürzen sich die Kinder und Jugendlichen am nächsten Morgen auf die heisse Schokolade und den Panettone, der am 25. Dezember seit Menschengedenken auf keinem bolivianischen Frühstückstisch fehlen darf. Der Panettone stammt bekanntlich ja auch nicht aus Bolivien. Wie er von Italien nach Südamerika gekommen ist, ist ein Rätsel. Bestimmt wäre es interessant, nachzuforschen, denn immerhin sind es die Spanier und Portugiesen gewesen, die den Kontinent kolonialisiert haben und nicht die Italiener. Vielleicht ist der Panettone mit der Welle von italienischen Einwandern gekommen, die vor ungefähr 150 Jahren vor allem nach Argentinien gelangt sind. Wer weiss, vielleicht werden gefüllte Enten mit Rotkohl hier auch einmal zur Tradition.

STEFAN GURTNER

Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected] erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote