Der die Piste kämmt

  31.12.2020 Saanenland

Als waschechte Unterländerin werde ich immer wieder davon überrascht, was das Saanenland alles zu bieten hat – und verpasse keine Gelegenheit, auf Entdeckungsreise zu gehen. Mein drittes Abenteuer führte mich auf die nächtlichen Pisten.

NADINE HAGER
Es ist wohl der Traum eines jeden Skiund Snowboardfahrers, eines Tages als Erste/r über die frisch bearbeiteten Pisten zu fahren und seine Spur in den Rillen des Schnees zu hinterlassen. Ich persönlich habe mir trotz dieser Wunschvorstellung nie Gedanken darüber gemacht, wie es überhaupt dazu kommt, dass in der Saison jeden Morgen frische Skipisten auf mich warten. Dies änderte sich, als ich mich vergangenen Montagabend mit Walter Reichenbach – dem hiesigen Pistenchef – an der Talstation Eggli im Rübeldorf traf. Ich hatte mich für eine Fahrt im Pistenbully angemeldet und ehrlich gesagt keine Ahnung, was auf mich zukam. Eigentlich ging ich einfach davon aus, dass ich in ein Pistenfahrzeug gesetzt und dann passiv eine Stunde mitfahren würde. Doch es sollte anders kommen.

Als erstes wies Walter Reichenbach nach unserer Begrüssung mit breitem Grinsen auf einen Schneetöff, der neben ihm stand. «Steigen Sie hinten auf, wir fahren jetzt die Pisten hoch!» Ich war überrumpelt – noch nie war ich auf einem Motorrad gefahren, geschweige denn auf einem für Schnee! Freudestrahlend verkündete ich, dass ich richtig gespannt war und warf meinen Rucksack in den Korb hinter den Sitzen. Dann hiess es: Aufsitzen und los gehts! Der Motor heulte auf und das Schneemobil setzte sich in Bewegung, direkt auf den Hang zu. Erst nach einer Minute fliegender Fahrt fiel mir auf: Noch nie zuvor war ich eine Piste hinaufgefahren! Auf meinen Ski war ich – wie man das halt so macht – immer in die entgegengesetzte Richtung unterwegs. Der Töff preschte über den Schnee, der den Tag über gehörig zerfahren worden war, und alle meine Versuche, gefasst und professionell auf dem Rücksitz Stellung zu halten, scheiterten. Ich quietschte vor Vergnügen wie ein kleines Kind, Zurückhaltung zwecklos. Kurz kamen wir zum Stehen, um Arnold Müllener, den Chauffeur des Pistenbullys, den ich begleiten würde, auf halbem Weg aufzuladen. Bei dieser Gelegenheit merkte ich an, dass wir richtig schnell unterwegs seien. Walter Reichenbach lachte nur darüber – und gab dann einmal richtig Gas. Ich kreischte und genoss die Fahrt.

Es dauerte nicht lange, bis wir in der immer weiter fortschreitenden Dämmerung an der Bergstation angelangten. Vor uns stand ein halb eingeschneites Ungetüm. Ganz ehrlich: Ich konnte nicht einmal Vorder- und Rückseite des Pistenbullys unterscheiden, was zum Glück von den Anwesenden unbemerkt blieb. Ich stieg ein und Arnold Müllener nahm neben mir – eine Maske tragend, genau wie ich – in der breiten Kanzel auf der Fahrerseite Platz. Ausserdem stand zwischen uns noch ein Schaltpult mit unzähligen Knöpfen, die Arnold Müllener verschiedenfarbig entgegenleuchteten. Walter Reichenbach verabschiedete sich. Als der Pistenbully-Chauffeur den Motor startete, stellte ich erleichtert fest, dass das Gefährt über eine Innenheizung verfügt – eine Wohltat für meine eisigen Füsse und durchgefrorenen Beine, die ich mir bei der Schneemobilfahrt zugezogen hatte.

Die Dunkelheit legte sich immer mehr über das Saanenland. Während Arnold Müllener den riesigen Pistenbully geschickt rückwärts ausparkierte, streiften dessen Scheinwerfer in grellem Weiss über den Schnee. Ich gab mir keine Mühe, meine Neugier im Zaum zu halten und begann spontan, den Chauffeur über seine Arbeit auszufragen. Dieser gab bereitwillig Auskunft: Er sei Landwirt und präpariere seit 21 Jahren nachts die Pisten – davon 19 mit den Pistenbullys. Seine Geübtheit konnte ich ohne Mühe aus seinen routinierten Bewegungen herauslesen. Während er sich nämlich locker mit mir unterhielt, bediente er gleichzeitig den Pflug vor der Frontscheibe und schaufelte damit Tiefschnee vom Rand auf die Skipiste. Dabei manövrierte er den riesigen Pistenbully flink und wechselte beiläufig alle paar Sekunden zwischen Vorwärts- und Rückwärtsgang hin und her. Fasziniert stellte ich fest, dass das Gefährt riesige Schneemengen ganz mühelos vor sich herschob und stets ruhig fuhr, obwohl der Untergrund hügelig war. Arnold Müllener bestätigte mir: «Ein Pistenbully hat enorme Kraft und wiegt um die 13 Tonnen – dies bietet im Gelände enorme Möglichkeiten.» Ich staunte nicht schlecht und kam für mich zum Schluss, dass diese Stärke gleichermassen faszinierend wie beängstigend war.

Während der Pistenbully-Chauffeur gekonnt seines Amtes waltete, musste er für mich bei unter null anfangen. Zum Beispiel erklärte er mir zuerst einmal, dass das Ding vor der Frontscheibe nicht Schaufel, sondern Pflug heisst und der Pistenbully hinter sich eine Fräse mitzieht, welche die Piste so «kämmt», wie sie jeweils am Morgen für die Wintersporttreibenden anzutreffen ist. Auch sein Schaltpult erklärte mir Arnold Müllener geduldig – dabei breitete sich ein Strahlen auf seinem Gesicht aus. Er brachte hervor, was ich bereits staunend vermutet hatte: «Dieser Pistenbully ist ein Wunderwerk der Technik und die Perle des ganzen Skigebiets – er ist mit der neusten Technologie versehen, die auf dem Markt zu haben ist.» Automatische Fräsenführung, automatische Anpassung des Zugs auf der Seilwinde, sogar eine automatische Steuerung des Pflugs sind eingebaut. Auf Letzteres verzichtet der langjährige Pistenbully-Chauffeur jedoch – den Pflug steuert er stets mit seinem Joystick. Als wir bereits auf dem Rückweg waren und ich mich entspannt zurücklehnte, konnte es Arnold Müllener nicht lassen, mich herauszufordern. Er übergab mir seinen Joystick.

Mit zusammengebissenen Zähnen kippte ich das Ding in alle erdenklichen Richtungen und versuchte krampfhaft, den Pflug so aufzusetzen, dass er knappen Bodenkontakt hatte und so den Schnee planierte. Arnold Müllener grinste neben mir: «Jetzt haben Sie das Gefährt aufgebockt, der Pflug ist zu tief – nein, nein, der Bodenkontakt ist verloren – Achtung, hier kommt eine Steigung, anheben, anheben!» Überfordert fragte ich, woher um alles in der Welt ich wissen sollte, ob der Pflug den Boden berührt oder nicht. Der Chauffeur zwinkerte mir zu: «Wir haben das im Gefühl.» Trocken stellte ich fest, dass mir dieses wohl gänzlich fehle und der Pflug ja obendrein ein winziger Teil von allem sei, das gleichzeitig gesteuert werden müsse. Arnold Müllener eroberte sich den Joystick zurück, blickte in die Nacht und bestätigte strahlend: «Wir Chauffeure sind stolz auf unseren Beruf. Wir geniessen es, diese Maschinen zu fahren – und es ist wunderbar, nach getaner Arbeit auf seine schöne, selbst präparierte Piste zurückzublicken.» Ich lächelte ihn an und blickte in den Rückspiegel, während wir in der Dunkelheit auf das warm beleuchtete Gstaad zufuhren. Hinter uns zog sich ein schöner, breiter Streifen frisch präparierter Piste.


ZUR SERIE

Als abenteuerlustige Zwanzigjährige, die zum ersten Mal alleine wohnt, sehe ich das Saanenland als wahren Schatz der Möglichkeiten an. Vieles kenne ich aus dem Aargau nicht – beispielsweise Alpabzüge oder Skipisten direkt vor der Tür. Bereits im Sommer habe ich deshalb beschlossen, mein halbes Jahr hier oben dafür zu nutzen, in die hiesigen neuen Welten einzutauchen und Neues auszuprobieren. Ich nehme Sie mit auf meine Reise.


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote