Der Differenzler

  08.12.2020 Leserbeitrag

Der Differenzler-Jass mit verdeckter Ansage gilt als die «Königsdisziplin» und zählt zu den «fairsten» Jassarten. Denn niemand bekommt beim Differenzler bessere oder schlechtere Karten als die andern. Man kann mit allen Karten gewinnen oder verlieren. Es geht ja nicht darum, mit den Karten, die man bekommen hat, möglichst viele Punkte zu machen, sondern das zu machen, was möglich ist. Oder anders gesagt: Es geht nicht darum, dass man versucht, möglichst viel herauszuholen, sondern es geht darum, dass man beim Differenzler – wie auch sonst im Leben – die augenblickliche Situation richtig einschätzt und versucht, das Beste daraus zu machen. Das Kartenglück und das Schicksal spielen dabei eine untergeordnete Rolle.

Beim Differenzler spielen alle Mitspielenden alleine. Und niemand kennt die Ziele der andern. Anhand der Karten, die man bekommen hat, muss man vor Spielbeginn schätzen und berechnen, wie viele Kartenpunkte man im Spielverlauf erzielen könnte. Die geschätzte Punktezahl wird auf einem persönlichen Zettel notiert, und die Schätzzettel werden von allen Mitspielenden verdeckt unter den Jassteppich gelegt. Am Ende des Spiels werden die erspielten Punkte mit den geschätzten verglichen und die Differenz errechnet. Es geht beim Differenzler also vor allem darum, dass Wunsch und Wirklichkeit möglichst nahe beieinanderliegen, dass die Differenz zwischen dem, was man erwartet hat, und dem, was letztlich eintrifft, möglichst klein ist.

Auf den ersten Blick ist der Differenzler ein recht unkomplizierter Jass. Man versteht bald einmal, worauf es ankommt. Aber recht schnell wird auch klar, dass zwischen dem Begreifen und dem Können halt doch ein grosser Unterschied besteht. Und es ist gar nicht so einfach, den Differenzler auch wirklich zu beherrschen. Auf jeden Fall geht es nicht über Nacht. Erst die Übung macht den Meister oder die Meisterin. Jasstechnisches Können allein genügt nicht. Es braucht neben dem Können auch ein gutes Gedächtnis, Scharfsinn und die Fähigkeit, ohne technische Hilfsmittel schnell zu rechnen. Damit man immer wieder nachrechnen kann, ob man noch gut «liegt», darf man im Gegensatz zu den übrigen Jassarten beim Differenzler die eigenen Stiche, die schon gekehrt sind, immer wieder einsehen.

Damit am Ende des Spiels eine möglichst kleine oder gar keine Differenz entsteht, muss man jedoch nicht bloss die Kartenmöglichkeiten richtig einschätzen, sondern auch so spielen, dass die errechnete Punktzahl erreicht werden kann. Das, was man sich ausdenkt, und das, was man mit Spielen versucht zu erreichen, muss übereinstimmen. Wenn man die Kartenmöglichkeiten ungenau schätzt und falsche Erwartungen errechnet hat, dann ist die Enttäuschung von Anfang an vorprogrammiert. Und wenn man Fehler macht beim Spielen oder auf unerwartete Züge der Gegner falsch reagiert, dann stimmen am Ende Wunsch und Wirklichkeit erst recht nicht mehr überein.

Die Differenz zwischen Wunsch und Wirklichkeit ist auch im Alltag oft die Ursache von Enttäuschungen. Viele Enttäuschungen, die man im Alltag erlebt, sind oft vorprogrammiert und haben nicht selten ihren Ursprung in unseren Erwartungen. Vor allem dann, wenn man glaubt, dass das, was man denkt und sich vorstellt, ganz sicher richtig ist, und wenn man erwartet, dass sich die andern so verhalten müssen, wie man es sich vorgestellt hat. Aber oft kommt es dann eben doch nicht so oder nicht ganz so, wie man es gerne hätte. Und zwischen Wunsch und Wirklichkeit entsteht eine Differenz, die letztlich unzufrieden machen kann. Aber immer, wenn beim Differenzler-Jass oder im Alltag die Differenz zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu gross ausfällt, kann man zum Trost die Worte von Dietrich Bonhoeffer zitieren und sagen: «Es gibt erfülltes Leben trotz vieler unerfüllter Wünsche.»

ROBERT SCHNEITER


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