Gespräche als Heilmittel

  11.12.2020 Region, Gesellschaft, Saanenland

Suizide sind nach Unfällen die zweithäufigste Todesursache bei Schweizer Jugendlichen. Wie sieht es im Saanenland diesbezüglich aus? Gibt es regionale Hilfsorganisationen zur Prävention oder zur Begleitung von suizidgefährdeten Jugendlichen?

SONJA WOLF
Schweizweit sind bei Jugendlichen etwa 30 bis 50 Suizide pro Jahr zu beklagen. Laut Bundesamt für Statistik sind Suizide nach Unfällen die zweithäufigste Todesursache und machen etwa ein Drittel der Todesfälle bei Jugendlichen aus. Noch beunruhigender erscheint die Zahl der Suizidversuche: Hier liegen die Personen zwischen 15 und 24 Jahren im Vergleich zu anderen Altersklassen gar auf dem ersten Platz (siehe Tabelle). Auch hier in der Region gab es vor wenigen Wochen einen Suizid eines Jugendlichen.

Was sind die Ursachen, wie kann man präventiv gegensteuern? An wen können sich Kinder, Jugendliche oder auch deren Eltern bei Problemen wenden, bevor es zu Verzweiflungstaten kommt?

Probleme stauen sich an
Während bei Erwachsenen psychische Erkrankungen als Ursache von Suiziden und Suizidgedanken dominieren, sind es bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen eher akute Belastungsstörungen, die ausgelöst werden durch Beziehungsprobleme, Mobbingvorfälle, Probleme in der Schule oder in der Lehre. Gewöhnlich liegt ein länger andauerndes Problem oder eine Reihe von Problemen vor. Die Gedanken kreisen bei diesen Jugendlichen häufiger um den Suizid, bis dann der Vorfall kommt, der das Fass zum Überlaufen bringt. Die Mehrheit der Suizide bei Jugendlichen sind dann auch «Kurzschlusshandlungen» und nicht die Folge von freien Willensentscheiden.

Erste klärende Gespräche
Zu erkennen, in welcher Situation sich der Jugendliche befindet, und frühzeitige klärende Gespräche sind normalerweise das beste Heilmittel. Mit ihren Eltern wollen die Betroffenen allerdings oft nicht sprechen, die Gespräche mit den besten Freunden und Freundinnen helfen auch nicht weiter. Organisierte Hilfe können sich die jungen Menschen dann zum Beispiel bei der Offenen Kinder- und Jugendarbeit Saanenland-Obersimmental (Juga) holen. Das Hilfsangebot wird rege genutzt: Über 600 Beratungsgespräche haben die Mitarbeitenden der Juga dieses Jahr bereits geführt. Was den jungen Menschen zwischen 10 und 24 Jahren auf der Seele brennt, sind Themen wie Mobbing, Stress, häusliche Gewalt, sexueller Missbrauch, Liebeskummer, Alkohol/Drogen in der Familie, Verschuldung und Schulprobleme. Diese greifen vor allem auch die Schulsozialarbeiterinnen auf, die vor Ort arbeiten. Dabei kommen oft andere vielschichtigere Probleme ans Licht. Die beiden Dienststellen arbeiten eng zusammen, um das Optimale für die Kinder leisten zu können. Eine enge Zusammenarbeit der Juga besteht auch mit den hiesigen Sozialdiensten.

Unkomplizierte Kontaktaufnahme
«Die Jugendlichen kommen einfach vorbei oder melden sich kurz vorher per Whatsapp an», erzählt die Leiterin der Juga Saanenland, Rosa Reiter. Weil so viele Anfragen bestehen, wurde sogar eine Beratungsapplikation entwickelt, die in Kürze aufgeschaltet und vom Schulsozialdienst mitverwendet werden wird. «Per Handy sind wir sicher während der Woche bis abends erreichbar.» Und sogar am Wochenende und am Abend würden die Juga-Mitarbeitenden in der Regel ihre Chats im Auge behalten. «Das heisst aber nicht, dass wir einen 24-Stunden-Service anbieten», präzisiert die diplomierte Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin Reiter. Dafür gebe es die Dargebotene Hand oder das Sorgentelefon von Pro Juventute.

Stärkere Belastung der Jugend durch Pandemie
In diesem speziellen Jahr musste das Beratungsteam der Juga feststellen, dass die Altersgruppe von 16 bis 25 durch die Pandemie stärker belastet ist. Ihrem Alter entsprechend drängt es sie nach draussen ins Leben, die Peergroup wird in dieser Phase wichtiger als der Kontakt zur Familie empfunden. Sie sind im Kreislauf zwischen Arbeit und Abende zu Hause gefangen oder studieren online, ohne Kontakte zu Mitstudierenden. «Das braucht eine enorm hohe Selbstkontrolle und Struktur. Manchen passt das, den meisten aber nicht», resümiert Reiter die Beobachtungen des Teams.

Parteiische Helfer
Die Beratungsgespräche finden zurückgezogen in den Räumen der Juga statt, telefonisch oder auch einmal bei einem Spaziergang. Diskretion ist sehr wichtig. Auch Eltern dürften anrufen, so Reiter, die Juga-Berater/innen seien aber sehr parteiisch mit der jugendlichen Klientel und würden auf Fragen wie «Raucht mein Sohn?» oder «Kifft meine Tochter?» nicht antworten, ohne das Einverständnis des betroffenen jungen Menschen eingeholt zu haben. Anders sieht es aus, wenn das Wohl des Jugendlichen in Gefahr ist, zum Beispiel bei Gefahr für Leib und Leben oder einem vermuteten Suizidvorhaben. Dann wird der/die Betroffene auf jeden Fall unverzüglich weitervermittelt. Kinder und Jugendliche bis zu 17 Jahren werden u.a. an das Kompetenzzentrum für Kinderund Jugendpsychiatrie Berner Oberland am Standort Spiez verwiesen. Dieses Kompetenzzentrum besteht aus einem Ambulatorium und einer Tagesklinik.

Obligatorische Programme
Wenn es interdisziplinär angebracht erscheint, vermitteln die Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen der Juga an die Psychologin Susanne Anliker von der Berner Gesundheit. Sie macht Beratungsgespräche am Standort Zweisimmen vornehmlich für Personen mit Suchtproblemen oder Essstörungen. «Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist es besonders wichtig, mit den Familien zusammenzuarbeiten, denn diese bleiben die wichtigsten Bezugspersonen der Jugendlichen, auch wenn die Eltern manchmal nicht diesen Eindruck haben», berichtet sie aus ihrem Arbeitsalltag. Die Sitzungen können laut Anliker auch mal obligatorisch sein, zum Beispiel bei jungen Menschen, die der Sozialdienst nach längerer Arbeitslosigkeit an sie verweist oder die aufgrund von Alkohol- oder Drogenkonsum aufgefallen sind. Neben Erwachsenen begleitet sie derzeit etwa acht junge Betroffene. Die Psychologin kann rasch feststellen, ob einige Gesprächssitzungen ausreichen oder ob der junge Mensch aufgrund von Depressionen oder offensichtlicher Suizidtendenzen in Behandlung muss. In diesem Fall entsendet sie die betroffene Person an den Psychiatrischen Dienst Zweisimmen, der die ambulante psychiatrische Grundversorgung für das Saanenland und das Simmental gewährleistet.

Präventionsprogramme für junge Erwachsene
Zur Suizidprävention können sich auch Schulen und Lehrbetriebe an die Berner Gesundheit wenden. «Wir wenden den Multiplikatorenansatz an. Wir arbeiten nicht direkt mit den jungen Erwachsenen, sondern befähigen Lehrpersonen, Schulsozialarbeitende oder Berufsbildner, wie sie gefährdete junge Erwachsene erkennen, und wie sie weiter vorgehen können», erklärt Susanne Anliker.

Schule noch nicht vorbereitet
Solch ein Präventionsprogramm visiert auch Marc Matti, Leiter der Abteilung Gstaad der Wirtschaftsschule Thun, für die Zukunft an. «Denn bei uns existieren zwar bereits einige Krisenanleitungen, zum Beispiel Anleitungen für Amokläufe, Feuerausbrüche und Ähnliches, aber auf das Vorgehen bei einem Suizidfall waren wir nicht vorbereitet», beschreibt Matti den Morgen, als er vom Suizid seines Schülers erfuhr. Allerdings sei an der Schule eine Psychologin angestellt, die an jenem Tag spontan vom Hauptstandort Thun die Filiale Gstaad fernberaten konnte. Auch Pfarrer Bruno Bader konnte kurzfristig gewonnen werden, um der betroffenen Klasse zur Seite zu stehen. Bevor Matti nun aber mit professioneller Hilfe einen Handlungsleitfaden zur Früherkennung und -intervention von gefährdeten Jugendlichen zusammenstellt, will er auf psychologischen Rat zunächst einmal die Ereignisse ein wenig sacken lassen und zum normalen Schulalltag zurückkehren. Die schuleigene Psychologin wird weiterhin allen Schülern für Gespräche zur Verfügung stehen. Bisher betreute sie bei den insgesamt 900 Schülerinnen und Schülern der Wirtschaftsschule etwa 80 bis 90 Ratsuchende pro Jahr. Bei der kleineren Filiale Gstaad sind es laut Matti ein bis zwei Lernende, die das Angebot bisher jährlich nutzten.


ANLAUFSTELLEN BEI PROBLEMEN, DEPRESSIONEN UND SUIZIDGEDANKEN

Beratung rund um die Uhr:
• Die Dargebotene Hand, Tel. 143 (auch E-Mail und Chat möglich)
• Pro Juventute, Tel. 147 (auch E-Mail und Chat möglich)

Beratung in der Region Saanenland-Obersimmental:
• Juga (Kinder und Jugendliche von 10 bis 25 Jahren)
Rosa Reiter, Tel. 079 820 39 32, [email protected]
Lara Pichler, Tel. 079 853 85 72, [email protected]
Stefanie Oehrli, Tel. 079 844 93 37, [email protected]
Marco Niederhauser, Tel. 079 595 70 17, [email protected]
• Schulsozialarbeit Saanenland:
Evelyne Moser, Tel. 079 825 79 85, [email protected]
• Berner Gesundheit, Standort Zweisimmen:
Susanne Anliker, Tel. 033 225 44 00, [email protected]

Therapiezentren (ambulatorisch und stationär):
• Ambulatorium Spiez (Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre), Tel. 033 826 02 10, [email protected] (Dr. med. Katharina Wiedmann, leitende Ärztin)
• Psychiatrischer Dienst Zweisimmen, Tel. 058 636 95 35, [email protected]
(Med. pract. Margarete Fischer, leitende Ärztin)


WARNSIGNALE FÜR SUIZIDABSICHTEN

Ihre Tochter/Ihr Sohn
• zieht sich immer mehr zurück
• ritzt sich oder zeigt anderes selbstverletzendes Verhalten
• schreibt Abschiedsbriefe oder verschenkt lieb gewordene Gegenstände
• macht Suizidandeutungen
• distanziert sich im Gespräch nicht von den Suizidandeutungen

Aus: Berner Gesundheit, «Infoblatt für Eltern und andere Bezugspersonen»

 


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