RANDNOTIZ

  04.12.2020 Leserbeitrag

Die heilige Kuh

SONJA WOLF
Und wieder liegt ein spannendes Abstimmungswochenende hinter uns. Laut Wikipedia finden in etwa die Hälfte aller weltweit abgehaltenen Volksabstimmungen in der Schweiz statt. So viele! Die Schweizer sind stolz auf ihre direkte Demokratie. Schon lange vor dem Abstimmungstag wird feurig diskutiert, die beiden Lager wettern ein bisschen gegeneinander und Unmengen an Geld werden für Überzeugungskampagnen ausgegeben. Ein jeder hat einen neuen Aspekt beizusteuern, ein jeder wird zum «Politiker». Aber ist das sinnvoll? Erlauben Sie mir, die heilige Kuh ein bisschen zu hinterfragen?

Ich denke, Volksabstimmungen sind zu viel des Guten. Dem einzelnen Normalbürger zu viel zugemutet. Nur als Beispiel: Als ich den Titel der Konzernverantwortungsinitiative zum ersten Mal gehört habe, dachte ich: Was kann daran schlecht sein? Natürlich bin ich dafür! Aber dann fing die Konfusion auch schon an: Ich las den Initiativtext ganz genau, führte mir den indirekten Gegenvorschlag Wort für Wort zu Gemüte und spätestens beim achtseitigen Änderungsvorschlag des Obligationenrechts kapitulierte ich. Wie kann ich persönlich die wirtschaftliche, juristische und politische Tragweite jedes einzelnen Argumentes abschätzen, schweizund in diesem Fall sogar weltweit? Und genau das ist meiner Meinung nach die Krux an den Volksabstimmungen: Die Geschäfte, über die abgestimmt werden, sind oft zu speziell und zu verwoben, als dass wir Durchschnittsbürger aus ganz anderen Fachgebieten die Konsequenzen unserer Wahl auch nur annähernd voraussagen könnten. Da tut man gut dran, die Entscheidung (im Fall der KVI) einem Team aus Politikern, Ökonomen und Juristen zu übertragen. Oder je nach Thematik Menschen mit Erfahrung in Landwirtschaft. Oder in Religionswissenschaft. Aber nicht der breiten Masse, wo höchstwahrscheinlich ein beachtlicher Teil aufgrund fehlender Kenntnisse oder ungenügender Einarbeitung aus dem Bauch heraus entscheidet.

Was dagegen ausnahmslos alle mündigen Bürger tun können, ist einzuschätzen, welche politische Partei das für sie geeignetste Programm anbietet und welche Persönlichkeiten ihnen vertrauenswürdig und kompetent erscheinen. Und wenn man sich nicht gut vertreten fühlt, wählt man nächstes Mal eben eine geeignetere Partei.

So machen wir es im übrigen ja auch in nichtpolitischen Bereichen: Wir wählen eine Therapeutin für unser Rückenleiden aus oder die geeignete Baufirma für unsere neue Garage und lassen sie werken. Natürlich könnten wir uns als mündige Bürger locker in alternative Behandlungsformen bei Ischias oder in die Baustatik bei Garagen einlesen und ihnen gut gemeinte Ratschläge geben. Sicher macht uns die Beschäftigung mit den Themen auch wachsamer und klüger. Aber ich persönlich überlasse die Detailplanung dann doch lieber den Berufsleuten, die ich ausgewählt habe und die sich mit der Materie gut auskennen. Und die Therapeutin und der Bauherr werden mir wahrscheinlich sogar dankbar sein, wenn ich mich als Fachfremde nicht allzu sehr einmische.

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