So absurd ist das System nicht

  31.12.2020 Leserbeitrag

Letzten Monat habe ich an dieser Stelle über das US-System zur Präsidentenwahl geschrieben. Und in diesem Zusammenhang auch erwähnt, dass dieses einige (aus heutiger Sicht) Absurditäten enthält. Ich habe auch erwähnt, dass das heutige politische System der Schweiz im Wesentlichen eine frühe Kopie dieses Systems ist.

Bis vor wenigen Wochen konnte man sich das noch kaum vorstellen. Ich hatte so oder so vor, diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede in einer weiteren Kolumne zu erläutern. Und in der Zwischenzeit ist mir die Aktualität in der Schweizer Politik zu Hilfe gekommen. Im Nachgang der Abstimmung zur Konzernverantwortungsinitiative ist nämlich etwas passiert, das sehr genau die Gemeinsamkeiten trifft: Die Initiative wurde nämlich nur durch das Ständemehr abgelehnt, die Mehrheit der Abstimmenden hat die Initiative eigentlich befürwortet. Das ist nichts anderes als das amerikanische System für die Präsidentschaftswahl: Es ist nicht nur die Bevölkerung eines Landes als Gesamtheit, die über die Geschicke des Landes entscheidet, sondern auch die sehr souveränen (im politischen Sinn) Gliedstaaten – bei uns Kantone genannt –, die auch ein gewichtiges Wort haben.

Wie wir darüber amüsiert sind, dass in den USA jemand Präsident werden kann, der weniger Stimmen als sein Konkurrent erhält, wurde das Ständemehr von den Verlierern der letzten Abstimmung in der Schweiz als veraltet kritisiert. So einfach ist es aber nicht, davon kann ich als Einwohner eines kleinen Bergkantons (Glarus) ein Liedchen singen: Würde nur die Anzahl an Abstimmenden zählen, wäre das eben auch nicht sehr fair. Dann könnten die Zürcher, Aargauer und Waadtländer über Dinge bestimmen, die Glarus sehr viel härter treffen. Da ist es sehr in Ordnung, wenn die Stände oder Kantone mehr Gewicht haben. Und vielleicht müsste man diesen Fakt auch auf die US-Wahlen projizieren: Dass halt nicht nur die (demokratischen) bevölkerungsreichen Metropolen an den Küsten über den Präsidenten entscheiden sollen, sondern auch die bevölkerungsarmen Staaten in der Mitte des Kontinents. Immerhin sind die Bedürfnisse dort völlig andere als in den Städten.

So absurd ist also dieses System mindestens in dieser Hinsicht weder in den USA noch in der Schweiz. Auf jeden Fall ist es keine gute Idee, am Ständemehr zu rütteln, wenn man nicht den Zusammenhalt von Stadt und Land in der Schweiz gefährden will. Zumal das Ständemehr ja praktisch nie zum ausschlaggebenden Faktor wird, wie die Geschichte zeigt.

Was das Schweizer System allerdings stärker macht als das amerikanische, ist der «lockerere» Umgang mit der Verfassung: Mit Volksinitiativen können Änderungen seit 1891 verhältnismässig einfach vor das Volk gebracht werden. Sowohl das Initiativrecht als auch die Einführung des fakultativen Referendums 1874 sind ein cleverer Umgang mit einem Konflikt: Dadurch konnte die katholische Minderheit in der Schweiz integriert werden und soziale Fragen wurden nicht nur von einer (politischen und wirtschaftlichen) Elite verhandelt. Diese Inklusion ist meiner Meinung nach verantwortlich dafür, dass es in der Schweiz sehr viel weniger soziale Unruhen gab und gibt als in den USA. Man stelle sich vor, in den USA gäbe es solche Möglichkeiten für die Minderheiten seit über 100 Jahren: Ich bin überzeugt davon, dass wir heute ein anderes und besseres Amerika hätten, das keinen Donald Trump als Präsidenten gewählt hätte.

SEBASTIAN DÜRST
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