Technische Beschneiung – welchen Preis zahlt die Natur?

  11.12.2020 Wintersport

Ohne technische Beschneiung kein Skifahren über Weihnachten und Neujahr – doch wie verträgt sich die Schneeproduktion mit der Umwelt? Ein Einblick in die Gratwanderung zwischen Skivergnügen und Umweltschädlichkeit mit Fokus auf die Vegetation.

NADINE HAGER
Die Temperaturen steigen von Jahr zu Jahr, und mit ihnen die technisch beschneibare Pistenfläche in der Schweiz – dies schon seit Messbeginn 1990, zeigen Zahlen von Seilbahnen Schweiz. Der Grund: Trotz der Klimaerwärmung und der daraus resultierenden verkürzten Periode natürlichen Schneefalls wünschen sich Gäste in Bergregionen Schneesicherheit über Weihnachten und Neujahr. «Wenn heutzutage ein Gast in der Weihnachtszeit kommt, hat er die Erwartung, dass er Ski fahren kann», erklärt Matthias In-Albon, Geschäftsführer der Bergbahnen Destination Gstaad (BDG), «und wenn er dies nicht kann, dann kommt er das darauffolgende Jahr nicht wieder. Deshalb: Entweder in einem grossen Skigebiet wird beschneit, oder es verschwindet von der Bildfläche.» Das Bedürfnis nach Skifahren an Weihnachten sei so gross, dass die BDG in diesen zwei Wochen 25 Prozent ihres Jahresumsatzes mache.

Laut Matthias In-Albon hängt von der technischen Beschneiung jedoch nicht nur die BDG ab, sondern die ganze Destination. «Eine Studie hat erwiesen, dass die Immobilienpreise eines Ortes um 60 Prozent einbrechen, wenn es die Bergbahn in der Region nicht mehr gibt.» Zudem biete die Wintersaison Arbeitsplätze für Einheimische. Seilbahnen Schweiz schreibt dazu: «Technische Beschneiung ist eine Art Vollkaskoversicherung für eine Bergregion.» Der Preis des Verzichts auf technische Beschneiung scheint also hoch zu sein. Doch wie hoch ist der Preis, den wir für die Produktion von Kunstschnee bezahlen?

Keine Beschneiung ohne Ressourcen
Es sind nicht nur die bekanntesten Kritikpunkte wie Strom- und Wasserverbrauch, welche in Bezug auf technische Beschneiung für Diskussionen sorgen. Kritiker betonen ausserdem, dass hohe Kosten verursacht, Tiere gestört und in Vegetation sowie Boden eingegriffen werden. Die entscheidende Frage ist: In welchem Ausmass schadet technische Beschneiung der Natur? Da der Debatte über Strom- und Wasserverbrauch bereits viel Aufmerksamkeit gezollt wird, soll an dieser Stelle insbesondere auf Vegetation und Boden eingegangen werden. Zur Diskussion stehen unterschiedliche Aspekte: So können Wasserzusätze genauso negative Auswirkungen auf die Pflanzenwelt haben wie das verspätete Schmelzen des Schnees (späte Ausaperung), die Zusammensetzung des Schmelzwassers sowie bauliche Eingriffe für die Installation der Beschneiungsanlagen. Der «Anzeiger von Saanen» hat zur Beurteilung und Einordnung dieser Faktoren Dr. Christian Rixen hinzugezogen. Er ist seit 20 Jahren wissenschaftlicher Mitarbeiter und Biologe am Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Seine Spezialgebiete: Gebirgsökosysteme und alpine Botanik.

Langlebige Schneedecke
Eines der Hauptargumente von Naturschutzvereinen ist in Bezug auf die Vegetation, dass Kunstschneedecken bis zu vier Wochen länger liegen bleiben als Naturschneedecken. Damit wird der Beginn des Pflanzenwachstums verzögert, belegen verschiedene Studien. Besonders frühblühende Pflanzenarten können in ihrer Fortpflanzung beeinträchtigt werden, da sich die Vegetationsperiode durch das lange Liegenbleiben des Schnees verkürzt – was das anzutreffende Artenspektrum verändert. Im Fachbuch «Kunstschnee und Umwelt» werden als Beispiele für beeinträchtigte frühblühende Arten der Scharfe Hahnenfuss sowie der Löwenzahn genannt.

Willy Aegerter ist als pensionierter Bergführer im Saanenland schon lange sehr stark mit der Natur verbunden, kann eine solche Auswirkung lokal jedoch nicht direkt bestätigen. «Wenn beschneit wird, kommt der Frühling auf den Pisten etwas später. Doch im Sommer sieht man davon nichts mehr», sagt er auf Anfrage.

Die Vegetationszusammensetzung auf Kunstschneepisten kann neben der späten Ausaperung auch vom Wasser beeinflusst werden, aus dem der Schnee hergestellt wird. Es stammt nicht aus der Atmosphäre, sondern aus Seen und Flüssen, weshalb es mehr Nährstoffe enthalten kann. Deshalb kann das Schmelzwasser des Kunstschnees je nach Zusammensetzung eine Düngewirkung ausüben. Eine von Christian Rixens Studien am SLF fasst zusammen: «Die verkürzte Vegetationsperiode kann längerfristig die Artenzusammensetzung auf Skipisten verändern.» Eine Zeigerart hierfür ist beispielsweise die Soldanelle. Im Interview relativiert der Wissenschaftler: «Die Auswirkung auf die Artenzusammensetzung ist schwierig zu bewerten. Wenn man auf einer Skipiste mit technischer Beschneiung mehr Pflanzenarten findet, welche ansonsten etwas höher gelegen angetroffen werden, ist das an sich nicht gut oder schlecht.»

Schlüssel Standortbezug
Schlecht wäre laut Christian Rixen nur, wenn der Effekt so stark wäre, dass die Vegetation lückig wird – dann müsse nämlich mit Erosion gerechnet werden, welche für die Vegetation sehr schädlich sei. Dies hat er so bisher jedoch nicht beobachten können. «In meinen Studien habe ich festgestellt, dass durch Kunstschnee eine Reihe von Auswirkungen hervorgerufen werden», erklärt der Wissenschaftler. «Aber es ist schwierig, zu sagen, was problematisch ist und was nicht. Ja, die Vegetation reagiert auf die lange Schneebedeckung – aber allein das Relief macht schon natürlicherweise einen Unterschied in der Vegetationszusammensetzung.» Für ein Urteil müssten deshalb lokal Untersuchungen angestellt werden.

Erosion kann laut einer Forschungsarbeit von Mountain Wilderness auch dadurch entstehen, dass durch die späte Ausaperung des Kunstschnees innerhalb kürzerer Zeit grössere Schmelzwassermengen abfliessen. Christian Rixen hält sich in diesem Punkt jedoch mit einer Beurteilung zurück – er könne nicht abschätzen, ob diese Erosion massgeblich auf das Schmelzwasser von Kunstschnee zurückgeführt werden kann. Auch Willy Aegerter relativiert: «Irgendwo kann es im Saanenland schon passieren, dass Erosion stattfindet oder andere Pflanzenarten blühen – doch dieser Effekt ist verschwindend gering.»

Schutz statt Schaden
«Ich bin der Meinung, dass Kunstschnee Fauna und Flora sogar Schutz bietet, da relativ bald eine kompakte Schneeschicht liegt, welche mechanische Einwirkungen von Pistenfahrzeugen und Skikanten mildert», argumentiert Matthias In-Albon. Kunstschnee besteht nicht aus Eiskristallen, sondern aus kleinen Eiskörnern, weshalb eine solche Schneedecke deutlich dichter ist als das Pendant aus Naturschnee. Christian Rixen kann deshalb die Aussage von Matthias In-Albon bestätigen: «Verholzte Pflanzenarten wie Alpenrosen können leicht abbrechen. Auf Kunstschneepisten sind sie häufiger anzutreffen, da sie durch die hohe und dichte Schneedecke mechanischen Schutz erfahren.» Auch dies ist jedoch ein zweischneidiges Schwert. «Es kann auch sein, dass sich auf technisch beschneiten Skipisten eine so hohe Schneedichte findet, dass sich eine Eisschicht bildet. Diese ist relativ luftundurchlässig. Somit kann Sauerstoffmangel im Boden entstehen, was der Vegetation schadet», erklärt der Wissenschaftler weiter. Der Forschungsarbeit von Mountain Wilderness zufolge kann dies sogar zu Schimmelbefall und Fäulnis führen. Christian Rixen möchte jedoch nicht bestätigen, dass dies ein flächendeckendes Problem ist.

Wasserzusätze am Start?
Auch chemische Substanzen können sich schädlich auf Boden und Vegetation auswirken, wenn sie dem Wasser zur Kunstschneeproduktion beigemischt werden. Abhängig von der gewünschten Schneekonsistenz und den Umgebungstemperaturen kann Kunstschnee durch verschiedene Zusätze optimiert werden: Beispielsweise werden bei FIS-Rennen Schneehärter eingesetzt, um den Schnee griffiger zu machen. Laut Christian Rixen können bestimmte, darin enthaltene Salze wie Dünger wirken und somit die Vegetationszusammensetzung signifikant verändern. Noch umstrittener als Schneehärter sind jedoch sogenannte Kristallisationskeime: Diese Eiweisspulver werden aus sterilisierten, abgetöteten Bakterien hergestellt und ermöglichen Beschneiung bei höheren Temperaturen. Ein populärer Vertreter davon ist Snomax – dieser Wasserzusatz soll laut Kritikern sogar die menschliche Gesundheit gefährden. Matthias In-Albon versichert jedoch: «Aus den Schneeerzeugern der BDG kommen nur reines Wasser und Luft, keine Chemikalien. Kristallisationskeime sind praktisch in keinem Skigebiet mehr im Einsatz, da diese hohe Kosten verursachen und durch die neuste Technologie der Schneeerzeuger überflüssig geworden sind. Ohnehin sind diese im Kanton Bern verboten.»

Bauen mit Bedacht
Eine Verallgemeinerung fällt schwer – eine pauschale Aussage macht Christian Rixen aber trotzdem. Entscheidender als die direkte Auswirkung von Kunstschnee sind aus seiner Sicht nämlich Eingriffe, welche beispielsweise für den Bau der Beschneiungsanlagen und deren Wasserversorgung vorgenommen werden. «Wenn nach einem Eingriff nicht vernünftig begrünt wird, kann dies Bodenerosion verursachen», erklärt der Wissenschaftler. «Und wenn diese Erosion einmal anfängt, haben es die Pflanzen immer schwerer, sich anzusiedeln und offene Flächen zu bewachsen. Dann können gewisse Schäden über Jahrzehnte oder sogar noch länger bestehen bleiben.» Es gelte deshalb, nach der Verletzung des Bodens dafür zu sorgen, dass er wieder zuwächst und so schnell wie möglich aussieht wie zuvor. Dies sei für ihn viel entscheidender als die Frage, ob Kunstschnee verwendet werden sollte oder nicht – denn bauliche Eingriffe würden auch für den Bau von Strassen oder Pisten vorgenommen werden, wodurch sie mehr ins Gewicht fallen würden. Als Orientierung hat Christian Rixen aus diesem Grund gemeinsam mit Praktikern Richtlinien zur Hochlagenbegrünung verfasst, welche möglichst naturschonende Eingriffe für die Skigebiete anleiten. Auch die BDG ist solchen Richtlinien und Vorschriften schon mehrfach begegnet. Einen grösseren baulichen Eingriff hat sie beispielsweise 2016 vorgenommen, um Grabarbeiten für neue Beschneiungsanlagen zwischen Rossfälli und Chalberhöni vorzunehmen. «Die Bewilligungsverfahren sind massiv verschärft worden und sehr fundiert. Es gibt Umweltverträglichkeitsprüfungen, welche sich über Jahre hinziehen können – und beispielsweise vorschreiben, Schutzzonen nicht zu queren», so Matthias In-Albon. Vor jedem baulichen Eingriff müsse neben einer Umweltverträglichkeitsprüfung auch ein externes Umweltscreening vorgenommen werden, wodurch der grösstmögliche Schutz von Boden und Vegetation gewährleistet werde.

Eine Frage des Abwägens
«Es ist sehr wichtig, für die technische Beschneiung einen Mittelweg zu finden», erklärt der Geschäftsführer der BDG. «Wir müssen abwägen zwischen der Lebensexistenz der hiesigen Bevölkerung und der Natur.» Aufgrund der regionalwirtschaftlichen Bedeutung von Skigebieten sei ein Verteufeln der Beschneiung keine Lösung. Auch Wissenschaftler Christian Rixen verurteilt die technische Beschneiung nicht per se. «Pauschal kann man Aussagen zu Vegetation und Boden nicht verallgemeinern», stellt er fest. «Die hervorgerufenen Effekte sind sehr stark vom Standort und den lokalen Umweltbedingungen abhängig – und nur weil sich etwas verändert, muss das nicht bedeuten, dass das schlecht ist.» Deshalb sei technische Beschneiung in Bezug auf die Vegetation nicht allgemein als negativ zu werten. Als viel wichtiger als das blosse Produzieren von Kunstschnee stuft der Wissenschaftler die Auswirkungen von baulichen Eingriffen ein. «Der mit Abstand wichtigste Teil ist die Begrünung nach der Verletzung des Bodens – das bezieht sich jedoch weniger auf die technische Beschneiung als vielmehr auf den Ausbau und die Verbreiterung von Skipisten oder auf jegliche Eingriffe in alpinem Gelände.» In direktem Bezug auf technische Beschneiung fordert Christian Rixen vor allem zu Verhältnismässigkeit auf. «Die Gesellschaft muss sich Gedanken darüber machen, dass es mit der zunehmenden Erwärmung Gewinner und Verlierer geben wird. Die Gesellschaft muss sich überlegen: Lohnt es sich, in jedem einzelnen Skigebiet in die technische Beschneiung zu investieren?»


DEBATTE WASSERVERBRAUCH

Eine Forschungsarbeit von Mountain Wilderness belegt, dass allein im Winter 2013/14 schweizweit 140 Millionen gefüllte Badewannen verschneit wurden. Pro Sekunde werden je nach Schneeerzeuger zwischen 3 und 12 Liter Wasser in Schnee umgewandelt – auf das ganze Skigebiet der BDG gerechnet sind das fast 800 Liter, die pro Sekunde durch die Schneeerzeuger laufen. Es werden Anstrengungen unternommen, den Wasserverbrauch zu reduzieren – beispielsweise, indem bestehender Schnee regelmässig verteilt wird, statt neuen zu erzeugen. Dies kann mithilfe von Schneehöhenmesssystemen in die Tat umgesetzt werden, eine Methode, welche auch bei der BDG im Einsatz ist.


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