Telemark: Erschöpfung vorprogrammiert!

  29.12.2020 Saanenland

Als waschechte Unterländerin werde ich immer wieder davon überrascht, was das Saanenland alles zu bieten hat – und verpasse keine Gelegenheit, auf Entdeckungsreise zu gehen. Mein zweites Abenteuer bereitete mir saftigen Muskelkater.

NADINE HAGER
Zum ersten Mal in meinem Leben muss ich mich als Aargauerin nicht über kurvige Pässe und lange Fahrten zu einem Skigebiet vorkämpfen: einmal der Länge nach hinfallen, und ich befinde mich an der Talstation Eggli. Was mache ich also in einem wunderbar verschneiten Winter wie diesem? Genau, ich schwinge mich auf die Ski. Dieses Jahr dürstete es mich jedoch nach einer neuen Herausforderung. Ich entschied mich, alpines Skifahren mal «verkompliziert» auszuprobieren. In anderen Worten: Telemarkfahren ahoi!

Eigentlich wusste ich gar nichts über diese Sportart, ich hatte als Kind mal ein paar sich seltsam verhaltende Skifahrer beobachtet und von meiner Mutter erklärt bekommen, dass sich diese kniebiegende Technik Telemarkfahren nennt – Ende des Fachwissens. Als ich jetzt beschloss, dass ich das selbst ausprobieren wollte, informierte ich mich auch nicht weiter darüber – jedes Wissen, das mich von diesem Vorhaben hätte abbringen können, war unerwünscht. Über das Netzwerk des «Anzeigers von Saanen» wurde mir nach gefälltem Entscheid eine Privatlehrerin vermittelt: Simone Oehrli, ehemalige Saaner Telemarkfahrerin an der Weltspitze. Ich schob meine Gedanken darüber, auf wie viele Arten ich mich vor ihr werde blamieren können, beiseite und setzte mich mit ihr in Verbindung.

Unser Termin liess nicht lange auf sich warten. Nach einer kurzen Whats-App-Unterhaltung und ein paar verstrichenen Tagen trafen wir uns vor dem Sporthotel Victoria in Gstaad. Zugegebenermassen fühlte ich mich etwas unsicher, denn weder wusste ich irgendetwas über das Telemarkfahren, noch kannte ich Simone Oehrli oder verfügte über eine passende Ausrüstung für unser Vorhaben. Ich wusste nicht einmal, welches Skigebiet wir anvisieren würden. Als Simone Oehrli mir schliesslich entgegenkam, erkannte ich sie sofort von den Bildern her, die ich mir im Vorfeld zu ihr «ergoogelt» hatte. Ein grosser Teil meiner Anspannung löste sich augenblicklich in Luft auf, denn sie begegnete mir so, wie ich es als Zwanzigjährige als «gechillt» bezeichne: einfach locker und irgendwie cool. Wir redeten frisch fröhlich und verstauten derzeit ihre Telemarkausrüstung in ihrem nebenan geparkten Auto. Dann fuhren wir los zu einem Sportgeschäft, um auch die meinige zu mieten. Währenddessen drang meine Neugier durch: Ich wollte wissen, wie die ehemalige Weltcupfahrerin zu ihrer Telemarkkarriere gefunden hatte. Verschmitzt lächelnd erzählte sie mir davon, wie sie per Zufall Zweitbeste in einer Schweizermeisterschaft geworden war, an der sie eigentlich nicht einmal hatte teilnehmen wollen – und von da an mit hartem Training an die Weltspitze gefunden hatte.

Nach diesen Neuigkeiten hörte ich ein hämisches Stimmchen in mir flüstern: «Tja, liebe Nadine, vielleicht bist ja auch du ein Naturtalent und haust heute Simone Oehrli aus den Socken mit deinem bisher versteckt gebliebenen Können – wer weiss, an der nächsten Schweizermeisterschaft könntest du aus Versehen auf dem Podest landen, es gibt solche Menschen!» Naja, wenig später standen wir auf dem Gipfel des Eggli, und dieser absurde Gedanke verpuffte schneller, als er mir überhaupt gekommen war. Nur schon die Bindung der Ski war mir höchst suspekt: Ohne Simone Oehrlis Hilfe hätte ich es nicht einmal hineingeschafft. Meine Hoffnung auf ein verborgenes Ausnahmetalent sank weiter, als ich von ihr in die Kunst des Telemarkfahrens eingeweiht wurde: den einen Ski nach vorne schieben in einen weiten Ausfallschritt, beide Knie beugen und mit dem Oberkörper aufrecht bleiben. Um es mir als Komplettanfängerin noch leichter zu machen, durfte ich die Kurven im alpinen Stil fahren und mich somit aufrichten, anstatt unten zu bleiben, wie es eigentlich gemacht wird. Ganz ehrlich: Schon das war ein Kampf!

Eigentlich war alles, was ich tun musste, in den Geraden vor den Kurven korrekt in die Knie zu gehen auf einer blauen Piste, die praktisch kein Gefälle aufweist. Doch das war alles andere als einfach. Jedes Mal, wenn ich glaubte, die Sache einigermassen im Griff zu haben, hörte ich Simone Oehrli mir munter zurufen: «Tiefer in die Knie! Den Ausfallschritt grösser machen! Richte dich auf, Blick geradeaus!» Oder: «Nicht so verkrampfen. Vergiss nicht, zu atmen!» Nichts leichter als das. Meine Ski tänzelten unkontrolliert durch den Schnee, während ich krampfhaft versuchte, an alles gleichzeitig zu denken und das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Ich hatte die Arme weit ausgebreitet wie ein Vogel kurz vor seinem – unvermeidbaren und höchst ungraziösen – Absturz. Nach zwei Geraden war ich schweissgebadet und meine Oberschenkel brannten. Doch ich biss mich weiter durch: Es konnte doch nicht so schwer sein, stabil und korrekt ein paar Meter weit zu fahren! Oh doch, das konnte es. Es verging nicht viel Zeit, bis ich realisierte: Am Punkt maximaler körperlicher Anstrengung, dann, wenn meine Oberschenkel ein einziges Feuer waren, war meine Haltung korrekt. Sobald ich irgendwie auswich, um meine Muskeln minim zu entlasten, meldete sich Simone Oehrli und korrigierte irgendetwas.

Glücklicherweise kann ich ein bisschen alpin Ski fahren. So hatte ich immer wieder die Möglichkeit, mich aufzurichten und einen Teil der blauen Piste im gewohnten Stil zurückzulegen – ansonsten wäre ich wohl nie am nahe gelegenen Bügellift angekommen, denn ich fuhr mit höchstens zwei Kilometern pro Stunde und brauchte alle paar Meter eine Pause! Insgesamt fuhren wir die Piste dreimal hinab. Dafür brauchte ich eine Stunde. Schon bei der zweiten Fahrt mit dem Bügellift zitterten die Muskeln meiner Beine unkontrolliert vor Anstrengung und ich wollte mich nur noch setzen. Trotzdem schaffte ich es gegen Schluss sogar zwischendurch, etwas schneller als ultralangsam zu fahren und ab und an eine ganze Gerade zu fahren, ohne in der Hälfte aufzugeben. Ich war gehörig stolz auf mich – bis Simone Oehrli in einem Höllentempo in Kurzschwüngen den Hang hinabfuhr. Rückwärts.

Beinahe hätte ich meine Mentorin nach der dritten Fahrt angefleht, wieder in die Gondel zu sitzen und das Training zu beenden – doch sie erriet auch ohne ein Wort von mir, dass der Zeitpunkt gekommen war, mich zu erlösen. In der Egglibahn lachten wir beide herzhaft darüber, dass ich mich noch nie in meinem Leben so unsportlich fühlte und Simone Oehrli erzählte mir, dass sie einmal genauso begonnen hatte wie ich. Irgendwie glaube ich ihr das nicht, aber ihr tröstender Versuch zählt. Wenig später stakste ich mit steifen Beinen zu meiner Wohnung und warf mich sogleich in ein Entspannungsbad. Trotzdem hatte ich am nächsten Tag starken Muskelkater, was an sich keine Überraschung war – unerwartet war nur, dass ich die Anstrengungen des Telemarkfahrens kaum in meinen Beinen spürte. Nein, der einzige Muskel, der wirklich schmerzte, war mein rechter Trizeps. Wieso um alles in der Welt ein Armmuskel? Und nur rechts? Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie so etwas möglich ist. Nur eins ist klar: Das spricht nicht wirklich für meine Technik.


ZUR SERIE

Als abenteuerlustige Zwanzigjährige, die zum ersten Mal alleine wohnt, sehe ich das Saanenland als wahren Schatz der Möglichkeiten an. Vieles kenne ich aus dem Aargau nicht – beispielsweise Alpabzüge oder Skipisten direkt vor der Tür. Bereits im Sommer habe ich deshalb beschlossen, mein halbes Jahr hier oben dafür zu nutzen, in die hiesigen neuen Welten einzutauchen und Neues auszuprobieren. Ich nehme Sie mit auf meine Reise.


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