Gemeinsam heilen

  22.01.2021 Saanenland

Selbsthilfegruppen sind mit ihrem grossen Potenzial für Heilung ein wichtiger Pfeiler des Schweizer Gesundheitssystems. Dennoch gibt es davon im Saanenland kaum eine Einzige.

NADINE HAGER
Tinnitus, Hochbegabung, Burnout oder Lähmungen – ganze 51 Selbsthilfegruppen finden sich allein im Berner Oberland zu allen erdenklichen Themen. Im Rahmen solcher Gruppen schliessen sich Betroffene oder deren Angehörige zusammen, um sich gemeinsam über ihre Erfahrungen auszutauschen und einander zu helfen, zurück in ein selbstbestimmtes Leben zu finden. Ein wichtiges Merkmal: Selbsthilfegruppen werden nicht von einer Fachperson geleitet, sondern zeichnen sich dadurch aus, dass alle Teilnehmenden allein aus ihren Erfahrungen schöpfen.

Austausch entlastet
«Selbsthilfegruppen bieten den Raum, einander unter Gleichgesinnten auf Augenhöhe zu begegnen und sich auszutauschen», definiert Heidi Kaderli von Selbsthilfe BE, welche die Beratungsstelle in Thun leitet. «In diesem Rahmen können sich Betroffene öffnen, unterstützt, getragen und verstanden fühlen – denn jeder kennt die Probleme, den Schmerz oder die Verzweiflung des anderen. Jeder weiss, wovon der andere redet – so kann man einander ermutigen.» Dr. Beat Michel, Hausarzt in der Praxis Madora in Gstaad, sieht dies genauso. «Es ist eine grosse Entlastung, die Geschichten von Menschen mit ähnlichen Herausforderungen zu hören – denn plötzlich kann man seine eigenen Empfindungen und Erlebnisse einordnen.» Kaderli und Michel sind sich einig, dass die Selbsthilfe genau deshalb eine wichtige Ergänzung zu medizinischen und therapeutischen Angeboten ist. Trotzdem – diese Art des Hilfeholens ist im Saanenland kaum verbreitet.

Niedrige Popularität?
«Vielleicht ist die Möglichkeit, sich Hilfe bei einer Selbsthilfegruppe zu holen, im Saanenland einfach nicht bekannt oder populär genug», versucht Heidi Kaderli diesen Sachverhalt zu erklären. Ist der lokalen Bevölkerung die Selbsthilfe fremd? Marianne Aegerter und Peter Klopfenstein sind nicht dieser Meinung. Da sie beide im Pfarramt der reformierten Kirchgemeinde Saanen-Gsteig tätig sind, kommen sie über die Seelsorge mit diesem Thema in Kontakt. «Ich denke, dass die lokale Bevölkerung sich der Möglichkeit, einer Selbsthilfegruppe beizutreten, durchaus bewusst ist», erklärt Peter Klopfenstein. Er empfiehlt diese Option gegebenenfalls selbst bei der Seelsorge. «Doch die Menschen suchen hier zuerst andere Wege.» Pfarrerin Marianne Aegerter stimmt ihm zu. «Gerade auf dem Land findet man eher familiäre Strukturen – man hilft sich zunächst gegenseitig», meint sie. «Wenn dies nicht funktioniert, zieht man eine Fachperson hinzu, und zwar zunächst den Hausarzt, Pfarrer oder Psychologen.»

Die lokale Lage
Dass der Beitritt zu einer Selbsthilfegruppe in der Regel nicht die erste Wahl ist, habe auch damit zu tun, dass sich die meisten Selbsthilfegruppen in Thun und Bern treffen, so Aegerter. Anders als dort ist das Angebot im Saanenland relativ eingeschränkt: Es gibt hier momentan eine Selbsthilfegruppe sowie eine fachgeleitete Gruppe. Letztere kommt nah an eine Selbsthilfegruppe heran, wird jedoch – wie der Name es bereits verrät – von einer fachkundigen Person geführt. In dieser Form trifft sich im Saanenland eine Angehörigengruppe für Alzheimererkrankte. «Diese fachgeleitete Gruppe gibt es schon über zehn Jahre», erklärt Gruppenleiterin Edith Ellenberger von Alzheimer Schweiz, «wenngleich wir zeitweise sehr wenige Teilnehmende haben.»

Die nicht fachgeleitete Gruppe im Saanenland, welche somit als Selbsthilfegruppe bezeichnet werden kann, beschäftigt sich mit Alkoholismus und ist Teil der weltweiten Organisation der Anonymen Alkoholiker. Diese ist allerdings nicht wirklich auf Einheimische ausgerichtet: Nur während Juli und August ist sie aktiv und findet ausschliesslich auf Französisch und Englisch statt, da sie auf ausländische Gäste ausgerichtet ist, welche auch in ihren Ferien nicht auf Selbsthilfetreffen verzichten möchten. Es gibt also kaum eine Selbsthilfegruppe im Saanenland, wie sie der gängigen Definition entspricht.

Der Lohn des Reisens
Doch weshalb kommt es lokal nicht zu einer regulären Gründung? «Unter Umständen besteht im Saanenland gar nicht das Bedürfnis, eine Selbsthilfegruppe zu gründen – denn hier ist die soziale Kontrolle sehr hoch», vermutet Béatrice Baeriswyl, Leiterin Sozialdienst Saanenland. «Man kennt sich untereinander sehr gut – in einer lokalen Selbsthilfegruppe ist es somit kaum möglich, anonym zu bleiben und sein Thema vollständig diskret zu behandeln.» Zudem sei es wohl nach wie vor schambehaftet, ein grösseres Problem zu haben und es nicht ohne Hilfe lösen zu können.

Auch Pfarrerin Aegerter hat das Gefühl, dass es nicht zwingend schlecht sein muss, dass Selbsthilfe lokal kaum verfügbar ist. «Für viele Menschen ist es ein Vorteil, sich auf neutralem Boden seinen Problemen zu stellen. Es hat somit seine guten Seiten, für den Austausch in einer Selbsthilfegruppe nach Bern oder Thun zu fahren – denn dort bleibt man anonym und hat auch eine gesunde räumliche Trennung zu seinem Zuhause.» Zudem könne man dann von grösseren Lebenshorizonten profitieren; je mehr Menschen aus unterschiedlichen Lebenssituationen zusammenkämen, desto vielfältiger sei die gegenseitige Inspiration.

Die Scham macht den Unterschied
Der lokale Arzt Beat Michel sieht nicht nur dies als Grund dafür, sich ausserhalb des Saanenlands einer Selbsthilfegruppe anzuschliessen. «Leidende Menschen wollen ihre Probleme oft nicht auf ihre nahen Bekannten abwälzen, da sie diese nicht belasten möchten», erklärt er. «Deshalb tut es Betroffenen gut, sich in einem klar definierten Rahmen mit Leuten auszutauschen, die man nur zu diesem Zweck trifft.»

Trotz all diesen Argumenten ist die Angehörigengruppe für Alzheimererkrankte im Saanenland zustande gekommen. Edith Ellenberger erklärt dies so: «Das Thema, einen von Alzheimer betroffenen Angehörigen zu haben, ist weniger schambehaftet. Deshalb macht es den Menschen auch weniger aus, ihre Anonymität aufzugeben und mit alten Bekannten auf das fachgeleitete Hilfsangebot einzugehen. Im Gegenteil: Die Teilnehmenden empfehlen die Gruppe sogar unter ihren Kolleginnen und Kollegen weiter.»

Neugründung jederzeit möglich
Abgesehen von dieser Ausnahme besteht im Saanenland jedoch kein Selbsthilfeangebot, das für Einheimische bestimmt ist. Momentan ist eine diverse Themenpalette für die Bevölkerung des Saanenlands so nur für Menschen mit hoher Mobilität und ausreichend Zeit eine realistische Option. Hansueli Reichenbach, Seelsorger und Suchtkrankenhelfer vom Blauen Kreuz im Saanenland, bedauert dies: Vor ein paar Jahren hat das Blaue Kreuz bereits eine gut funktionierende fachgeleitete Gruppe für Betroffene und Angehörige mit Fokus auf Alkoholismus organisiert – diese löste sich jedoch auf. «Wir wären jederzeit bereit, erneut eine fachgeleitete Gruppe oder auch eine Selbsthilfegruppe zu gründen», erklärt er, «doch momentan gibt es hierfür keinen Startschuss, es besteht kaum Nachfrage.» Genauso betont Frau Kaderli, dass auch die Selbsthilfe BE den Aufbau von Selbsthilfegruppen im Saanenland begleiten würde – zudem stellt die Organisation der Anonymen Alkoholiker klar, dass eine Neueröffnung für Einheimische jederzeit möglich sei.

Technische Probleme
Nicht nur die mangelnde Bereitschaft und die somit nicht vorhandene Nachfrage kann das Fehlen von lokalen Selbsthilfegruppen erklären, findet Heidi Kaderli von Selbsthilfe BE. Eine weitere Begründung sieht sie in den geografischen Verhältnissen: «Das Saanenland ist ein sehr kleines Einzugsgebiet. Da die Themen von Selbsthilfegruppen spezifisch sind, gibt es kaum genügend Betroffene, die einen Austausch in einer solchen suchen, um eine Selbsthilfegruppe zu gründen», erklärt sie. Auch Hausarzt Dr. Beat Michel findet, dass das Einzugsgebiet eine zentrale Rolle spielt. «Meiner Einschätzung zufolge ist die Beitrittsbereitschaft der Menschen ein grosses Thema – eine Selbsthilfegruppe ist schliesslich nicht für jedermann das Richtige», führt er aus. «Ich persönlich glaube jedoch, dass es vor allem eine technische Frage ist, ob lokal eine Selbsthilfegruppe zustande kommt oder nicht: Es ist einfach schwierig, genügend Leute zusammenzubekommen.»

Nicht zu vergleichen
Doch ist die Selbsthilfe somit wirklich keine reelle Option für Menschen im Saanenland – und sind Psychologen und Hausärzte nicht die einfachere Lösung? «Die Selbsthilfe ist mit therapeutischen oder medizinischen Angeboten nicht zu vergleichen», stellt Marianne Aegerter klar. «Ein Arzt oder ein Psychologe weiss nicht viel mehr, als sein Patient ihn wissen lassen möchte. In einer Selbsthilfegruppe hingegen kann jeder die Gefühlswelt des anderen nachfühlen, auch ohne, dass man diese zur Sprache bringt.» Deshalb sei dieser Spiegel ganz anders als jener, der einem ein Psychologe hinhalte. Auch die Eigenverantwortung sei nicht zu vergleichen: «Das Wort ‹Selbsthilfe› sagt es bereits. Man hilft sich selbst und nimmt das Ruder selber in die Hand. Diese Verantwortung sieht anders aus bei dem Besuch eines Psychologen oder Arztes, da man sich dort in Obhut begibt», so Aegerter.

Ein Puzzle zum Zusammensetzen
Auch Dr. Michel bestätigt, dass die genannten Therapieformen an einem ganz anderen Punkt ansetzen. Deshalb ist er dafür, dass möglichst beide Schienen gefahren werden: «Eine Therapie braucht immer ‹sowohl als auch›, sie soll multimodal sein. Deshalb finde ich es gut, verschiedene Ansätze auf einmal zu verfolgen – es ist nicht die Frage, ob Psychologe oder Selbsthilfe. Das Zusammenspiel aller Puzzleteile ist das, was Heilung bringt.» Und auch Hansueli Reichenbach vom Blauen Kreuz macht Mut: «Selbsthilfe geht sehr tief und ist deshalb heilsam. Doch man kann nur gewinnen, wenn man es wagt.»


INTERESSENS-GRUPPE IN GRÜNDUNG

Aus der Bevölkerung des Saanenlands kommt der Wunsch, eine Art Selbsthilfegruppe zum Thema Autismus-Spektrums-Störung (ASS) zu gründen, dies jedoch mit der seelsorgerischen Begleitung von Pfarrerin Marianne Aegerter. Diese erklärt: «Ich weiss, dass ASS im Saanenland ein Thema ist und es genügend Betroffene für eine Selbsthilfegruppe gibt. Jetzt versuchen wir, diese Menschen zusammenzuführen.» Die Interessensgruppe ist konfessions- und religionsunabhängig.

Bei Interesse dürfen Sie sich direkt an Pfarrerin Marianne Aegerter wenden: Tel. 033 744 14 28 oder per E- Mail: [email protected]


GELEITETE GRUPPE

Angehörige von Alzheimererkrankten treffen sich einmal im Monat im alten Spital Saanen, um sich unter der fachkundigen Leitung von Edith Ellenberger auszutauschen. Die Gruppe wird von Alzheimer Schweiz organisiert.

Edith Ellenberger: Tel. 033 744 28 01 www.alzheimer-schweiz.ch


BERNER OBERLAND: SELBST-HILFEGRUPPEN IN GRÜNDUNG

Es werden immer wieder neue Selbsthilfegruppen gegründet, um den Anliegen der Menschen gerecht zu werden. Im Berner Oberland befinden sich der Selbsthilfe BE zufolge folgende im Aufbau:
– Autismus
– Brustkrebs unter 50
– Chronische Schmerzen
– Darmkrebs
– Hochsensibilität
– Krebs Angehörige
– Diagnose Krebs
– Hochsensible Kinder (Eltern)
– Myom
– Neurodermitis
– Neuromyelitis optica
– Verdingkinder

Informationen zu bestehenden Selbsthilfegruppen im Kanton Bern (Themenliste Selbsthilfe BE): https://tinyurl.com/y33hm7jt


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