Ist Kunst systemrelevant?

  22.01.2021 Leserbriefe

Systemrelevanz, das Deutschschweizer Wort des Jahres 2020, beschreibt Aktivitäten, die für das Funktionieren unserer Gesellschaft als unverzichtbar eingestuft werden. Welche gesamtgesellschaftliche Bedeutung also hat Kunst? Die wegen der Pandemie notwendigen Massnahmen zur menschlichen Kontaktreduzierung zwingen uns dazu, darüber nachzudenken, was und wer in welcher Intensität für uns wichtig sind. Lassen wir uns von Musik berieseln, damit wir uns nicht so alleine fühlen? Kaufen wir ein Gemälde als schöne Dekoration, passend zur Einrichtung – wenn gerade noch genug Geld da ist, oder lesen wir nur noch, wenn wir von seichten Medien übersättigt sind? Ist Kunst demzufolge ein Konsumartikel, ein Luxus, den man sich leistet, nachdem man sich das Existentielle gesichert hat – quasi das Tüpfelchen auf dem i? Nun, diese Meinung kann man haben. Man könnte aber auch darauf hinweisen, dass schon unsere Ahnen vor vielen Tausend Jahren das Bedürfnis verspürten, ihre Eindrücke des Lebens schöpferisch festzuhalten. Die Forschung hat bis heute keine eindeutig praktische Erklärung für die Höhlenmalereien. Vielleicht haben sie unsere Vorfahren vor 30’000 – 45’000 Jahren einfach aus einem inneren Bedürfnis kreiert. Das Bedürfnis nach künstlerischer Tätigkeit konnten selbst die dunkelsten Stunden der Menschheit nicht ersticken. Genau so wenig verloren die Menschen aus freien Stücken jemals das Interesse an Kunst. Yehudi Menuhins globale Popularität ist zu einem wesentlichen Teil auf die Zeit während des Zweiten Weltkriegs zurückzuführen, als er um die 500 Konzerte für Soldaten der alliierten Truppen gab. Seine Musik gab ihnen Hoffnung, spendete Trost und liess sie ihr tragisches Schicksal für einen kleinen Moment vergessen. Selbst in sorgloseren Zeiten verspürt wohl jeder von uns ein inneres Verlangen, welches nicht mit der Deckung der Grundbedürfnisse und materiellen Extras gestillt werden kann. Kunst regt uns zum Nachdenken an, konfrontiert uns mit Verborgenem, spiegelt sowohl die Zeit in der wir leben als auch uns selbst. Sie beseelt uns und lässt uns über uns hinauswachsen, indem wir für Momente des Bewusstseins von Endlichkeit und Begrenztheit befreit werden. Müssen wir der Kunst zu lange entsagen, verkümmern unsere Seelen und Herzen. Messen wir ihr also die Systemrelevanz zu, die ihr gebührt – gerade und ganz besonders in Krisenzeiten!

ÇETIN KÖKSAL,
PRÄSIDENT SAANER FREUNDE DER IMMA UND STIFTUNGSRAT IMMA (INTERNATIONAL MENUHIN MUSIC ACADEMY)


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