Triage-Entscheidungen in der Pandemiekrise

  29.01.2021 Kirche

Zu den schwierigsten ethischen Konflikten der Corona-Pandemie gehören Situationen, in denen die lebenserhaltenden medizinischen Ressourcen nicht ausreichen, um alle Schwerkranken zu behandeln. Die aus der Kriegs- und Katastrophenmedizin bekannte Dilemmasituation wird in der Fachliteratur unter dem Titel «Tragische Entscheidungen» diskutiert. Diese lassen sich ethisch nicht konfliktfrei auflösen, eine ethisch «gute» Entscheidung ist ausgeschlossen.

Was also ist zu tun? Welche Aufgaben und Möglichkeiten haben Spitäler und Heime, Politik, Zivilgesellschaft und Einzelpersonen?

Nachfolgend finden sich Überlegungen des Instituts für Theologie und Ethik der evangelisch-reformierten Kirche Schweiz. Weitergehende Erwägungen des genannten Instituts stelle ich auf Anfrage gerne zur Verfügung.

BRUNO BADER

1. Medizinisches Handeln ist der Wahrung der Menschenwürde, den Grundrechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit, dem Prinzip der Rechtsgleichheit und dem Diskriminierungsverbot verpflichtet. Das Leben und die Gesundheit eines jeden Menschen gelten gleich viel. Verboten sind die Verweigerung oder Verteilung medizinischer Leistungen aufgrund von «Arbeitsfähigkeit, Finanzkraft, gesellschaftlicher Stellung, Religionszugehörigkeit, politischer Einstellung und dergleichen.»

2. Der Sache nach geht es bei Triage-Entscheidungen (frz. «trier»: «sortieren, aussuchen, auslesen») um das Vorenthalten oder den Abbruch lebensrettender medizinischer Massnahmen, die aus medizinischer Sicht geboten und sinnvoll sind. Gäbe es keine Ressourcenengpässe, würden die von einer Triage betroffenen Patienten selbstverständlich intensivmedizinisch versorgt. Falsch ist deshalb die Behauptung, die Triage sei ein medizinisches Verfahren. Richtig ist dagegen, dass die Medizin Kriterien beisteuern kann, um möglichst faire Verteilungsentscheidungen unter besonderen Knappheitsbedingungen zu treffen.

3. Bereits mit der Erklärung einer Triage-Situation ist die Geltung der grundlegenden medizinethischen Grundsätze und medizinischen Standesregeln in Frage gestellt. Das Vorenthalten oder der Abbruch einer lebensrettenden medizinischen Versorgung bei einer schwerkranken Person bedeutet:
• eine Missachtung des Prinzips des Respekts der Autonomie, wenn diese Person die Behandlung ausdrücklich wünscht und sie medizinisch angezeigt ist.
• eine Missachtung des Nichtschadenprinzips, welches das Medizinpersonal darauf verpflichtet, Schaden von der Person abzuwenden.
• eine Missachtung des Fürsorgeprinzips, nach dem das Medizinpersonal die Pflicht hat, alles in ihrer Macht stehende zur Besserung des Gesundheitszustands der Person zu tun.

4. Die Dramatik der Triage-Situation besteht darin, dass das Medizinpersonal zu einem Handeln genötigt wird, das seinen Kompetenzen, seinem professionellen Selbstverständnis und den eigenen beruflichen und moralischen Einstellungen entschieden widerspricht. Obwohl es damit keine persönliche Schuld auf sich lädt, wird es einem extrem belastenden Schuldzusammenhang ausgesetzt.

5. Die dramatische Situation für die betroffenen Patienten und ihre Angehörigen sowie die belastende Konfrontation für das Medizinpersonal verlangen von den Entscheidungsträgern einen äusserst sorgfältigen Umgang bei der Erklärung einer Triage-Situation. Vorgängig muss sichergestellt sein, dass alle Massnahmen überprüft und ergriffen wurden, um eine Triage-Situation abzuwenden.

6. Triage-Situationen stehen am Ende einer langen Kette von ethisch relevanten Entscheidungssituationen. Sie betreffen die Politik, die medizinischen Institutionen und die Zivilgesellschaft:
• Sind aus gesundheitspolitischer Sicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um Behandlungskapazitäten auszuweiten? Können Spitäler die vorhandenen Ressourcen optimieren (zum Beispiel durch Verschiebung nicht lebenswichtiger Behandlungen)?
• Wurden nationale und internationale Möglichkeiten der Vernetzung von Intensivkapazitäten geprüft, vorangetrieben und genutzt (für eine optimale Ausnutzung durch Verteilung oder Verlegung von Patienten)? Wenn an einem anderen erreichbaren Ort noch Intensivkapazitäten vorhanden sind, besteht im strengen Sinn keine Triage-Situation.
• Gibt es eine gesellschaftliche Diskussion darüber, auf intensivmedizinische Behandlungen zu verzichten und in einer Patientenverfügung zu dokumentieren?
• Stehen ausreichende palliativmedizinische Ressourcen zur Verfügung für diejenigen, die aufgrund von Triage-Entscheidungen nicht intensivmedizinisch behandelt werden und für diejenigen, die aus eigenem Entschluss auf eine intensivmedizinische Behandlung verzichten?
• Ist gewährleistet, dass die betreuten Personen und ihre Angehörigen eine angemessene seelsorgerliche und psychologische Begleitung erhalten?
• Garantieren die staatlichen und betreuenden Institutionen, dass diese palliativmedizinisch betreuten Patienten jederzeit von ihren Angehörigen begleitet werden können?
• Informieren Politik und staatliche Institutionen die Gesellschaft über die Zusammenhänge zwischen dem eigenen Verhalten und den sich zuspitzenden medizinischen Entwicklungen? Weil niemand ernsthaft wollen kann, dass Patienten infolge von Triage-Entscheidungen sterben, muss sich jede und jeder fragen, was sie oder er zur Vermeidung einer solchen Situation beitragen kann. Jede Person, die unter Triage-Bedingungen einen schweren Infektionsverlauf überlebt, weil sie eine intensivmedizinische Behandlung erhält, kann nicht wissen, ob die medizinischen Ressourcen, die ihr das Leben retten, einer anderen Person, der sie vorenthalten wurden, das Leben gekostet haben.

7. Die Gesellschaft hat eine doppelte Pflicht: Erstens muss sie alles ihr Mögliche tun, damit Patienten und ihre Angehörigen nicht Opfer dieser tragischen Entscheidungen werden. Und zweitens haben alle Gesellschaftsmitglieder ihr alltägliches Verhalten auch daraufhin zu prüfen, ob damit in der Konsequenz das Medizinpersonal nicht unter den belastenden Druck geraten kann, solche Triage-Entscheidungen treffen und durchsetzen zu müssen.

8. Die unverzichtbaren Richtlinien, Forderungen und Appelle, wie wir uns verhalten sollen, drängen die Frage in den Hintergrund, wie wir leben wollen. Aber wir können mit einer Antwort nicht auf bessere Zeiten warten. Denn die aktuell bedrückende Lebenszeit erhalten wir später weder zurückerstattet noch können wir auf Kompensationsleistungen für entgangene Lebensfreude und -chancen hoffen.

9. Die einseitige Fixierung auf das Überleben mündet in eine absurde Verabsolutierung des Lebens. Dem hat Karl Barth entschieden widersprochen: «Das Leben ist kein zweiter Gott!» Erst die Fragen, worauf hin und wie wir leben wollen, macht das Überleben zu einer bedenkenswerten Option. Eine Antwort darauf finden wir nicht nur in uns selbst, sondern auch im Blick auf Andere und Höheres.

FRANK MATHWIG


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