«Das Gastgewerbe hat für mich Suchtpotenzial»

  16.03.2021 Serie, Porträt

Ruth Lüthi wird des Gastgewerbes niemals müde ganz im Gegenteil: Kaum jemand mag so viel Freude an der Arbeit haben wie die Mitpächterin des Hotels Wildhorn. Und damit nicht genug: Vollen Einsatz zeigt sie auch in ihrer Kinderskischule, in der Dorforganisation oder im Turnverein. Halbe Sachen gibt es für sie nicht.

SOPHIA GRASSER
Schwungvoll öffnet mir Ruth Lüthi die Tür des Hotels Wildhorn in Lauenen. «Endlich mal wieder in einem Restaurant, stimmts?», lacht sie und führt mich an einen der hinteren Tische des Speisesaals. Sie hat recht: Das wohlige Gefühl inmitten eines gemütlichen Gasthauses habe ich sehr vermisst. Ich sitze ihr gegenüber und rufe mir die Worte unseres letzten Alltagshelden Heinz Addor in Erinnerung: «Ich nominiere Ruth Lüthi, weil sie nicht nur beruflich eine grosse Verantwortung trägt, sondern auch in ihrer Freizeit wahnsinnig engagiert ist. Sie nimmt sich die Zeit, obwohl man meinen könnte, dass sie eigentlich gar keine hat.» Ich freue mich auf ihre Geschichte.

Als Mitpächterin eines Hotels hat es Ruth Lüthi weit gebracht; der Weg dahin ist von genauso vielen arbeitsreichen wie schönen Etappen geprägt. Ruth Lüthi wuchs auf einem Bauernhof in der Nähe von Bern auf und genoss eine unbeschwerte Kindheit. «Meine jüngeren Geschwister und ich haben viel Zeit an der nahe gelegenen Aare verbracht. Meine Mutter musste uns deshalb schon früh in einen Schwimmkurs schicken, um das Schlimmste zu verhindern.» Sie lacht. Doch das Leben auf dem Bauernhof bedeutet natürlich auch eines: schaffen. «Ich unterstützte meine Eltern von klein auf. Ich musste – Pardon: ich durfte – die Kühe melken, das Obst ernten oder meiner Mutter beim Kochen unter die Arme greifen.» Ich verstehe schon jetzt, was sich im Laufe des Gesprächs nur bestätigt: Arbeiten zu dürfen ist für Ruth Lüthi keine Last, sondern ein Geschenk.

Insbesondere ihr Welschlandaufenthalt erwies sich als Sprungbrett ins Gastgewerbe, schliesslich sei Französisch in diesem Berufsfeld von grossem Nutzen. Die erste Woche in Yverdon fiel Ruth Lüthi nicht leicht, doch in der Schule und auf dem Wochenmarkt lernte sie die Sprache unter den besten Voraussetzungen. «Meine Mutter hatte mir geraten, das bäuerliche Haushaltslehrjahr in der Deutschschweiz zu absolvieren. Ich habe mich meinen Eltern nicht oft widersetzt und ich habe nach wie vor das beste Verhältnis zu ihnen, aber ich bin froh, dass ich diesen Weg gegangen bin.» Wenig später klingelt das Telefon und die Fremdsprachenkenntnisse der Gastgeberin zahlen sich sogleich aus: Eine Buchung auf Französisch geht ein, die sie souverän abwickelt.

Zurück an unserem Tisch steigt Ruth Lüthis Erzählfreude, als sie mir von ihrer langjährigen Anstellung im Hotel Alpenland erzählt. Es hatte zu der damaligen Zeit gerade erst eröffnet und suchte nach motiviertem Personal. Ruth Lüthi und ihre Kollegin liessen sich diese Gelegenheit nicht entgehen und verbrachten statt der einen geplanten Wintersaison gleich insgesamt 14 Jahre in Lauenen. «Rosmarie und ich fanden Gefallen an dem Ort, dem Hotel und dem Team. Wir waren alle sehr jung und hatten kaum Erfahrung – umso grösser war unsere Motivation.»
Ruth Lüthi erklomm eine weitere Sprosse auf der Karriereleiter, als sie zur rechten Hand des Chefs vom Hotel Alphorn wurde. Doch so sehr sie auch dem Gastgewerbe verfallen ist – im Winter sehnte sie sich nach Abwechslung. Und weil es in Lauenen an Skilehrern fehlte, zögerte die Gastgeberin nicht lange, absolvierte einen Kurs und eröffnete kurzerhand eine Kinderskischule am Lauener Skilift. «Es bereitet mir grosse Freude, die schnellen Fortschritte der Kinder zu beobachten. Manchmal bin ich nach zwei Stunden schweissgebadet, aber das ist es wert. Heute Morgen stand ich mit dreijährigen Zwillingen auf der Piste. Gestern habe ich ihnen noch unter die Arme gegriffen, heute sind sie bereits freihändig den Hügel hinuntergefahren – eine Leichtigkeit für die kleinen Zwerge.» Um den Spagat zwischen Sommer- und Winterjob zu meistern, arbeitete sie teilweise 200 Prozent im Gastgewerbe. Ich staune nicht schlecht, obwohl ich mittlerweile wissen sollte, dass Ruth Lüthi keinesfalls unter der Belastung gelitten hat. Sie gehört zu der Sorte Mensch, die ihr Hobby zum Beruf gemacht hat.

Ende 2015 erhielt sie die Anfrage, das Hotel Wildhorn zu übernehmen. Ihrem Lächeln kann ich entnehmen, welche persönliche Bedeutung hinter dem Angebot stecken musste. Sie war selbst häufig zu Besuch im Wildhorn und hat diverse Feste miterlebt. «Sie müssen wissen: Ich bin zwar gesellig und mag den Kontakt zu den Kunden sehr, aber die tägliche Arbeit im Restaurant kann auch sehr anstrengend sein. Umso mehr habe ich es genossen, auch mal Gast sein zu dürfen.» Gleichzeitig war sie sich der überwältigenden Verantwortung bewusst, die mit der neuen Aufgabe einhergehen würde – eine Pflicht, die sie allein nicht erfüllen konnte. Das Projekt schien bereits zum Scheitern verurteilt, als eines Abends Thomas Addor anrief und vorschlug, sich dieser Herausforderung gemeinsam mit ihr zu stellen. «Ich schlief eine Nacht über den Vorschlag. Bereits am nächsten Morgen war ich mir sicher: Ich muss diesen Schritt wagen. Das Gastgewerbe hat für mich Suchtpotenzial. Also pachteten wir das Hotel Wildhorn.»

Selbst nach dem mühseligen Corona-Stillstand steckt Ruth Lüthi voller Tatendrang und freut sich auf die anstehenden Dorfveranstaltungen. «Corona geht uns an die Nieren, aber wir müssen positiv bleiben. Und wenn uns doch einmal die Motivation fehlen sollte, schenke ich unserem Wildhorn-Team nach Feierabend einen Appenzeller aus. Er gilt als unser Impfstoff gegen Corona – bisher hat es funktioniert.»

Wir stellen Ihnen Menschen vor, die jenseits der Schlagzeilen die Geschichte des Saanenlandes mitschreiben. Leute, die im Hintergrund Fäden spannen, ihr Umfeld mit ihrer Art bereichern oder ganz einfach anders sind. Die Serie rollt wie ein Schneeball durch die Region, denn die Porträtierten wählen jeweils selbst einen/eine Nachfolger/in. Auf Wunsch von Ruth Lüthi besuchen wir als Nächstes Ursula Michel.


ZUR PERSON

Ruth Lüthi ist 51 Jahre alt und hat sich dem Gastgewerbe verschrieben. In ihren Ferien unternahm sie früher viele Reisen. Sie flog beispielsweise nach Australien, Hongkong oder Singapur. Heute geht sie lieber in die Berge, um zu wandern. Als Fussballfan und ehemalige Turnerin unterstützt sie unter anderem die Vereine bei der Festwirtschaft. Für die Zukunft wünscht sie sich, mal wieder auszuschlafen.


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