Globale Arbeit, lokale Auszeit

  16.03.2021 Schweiz

Kerstin Sonnekalb war von Anfang 2008 bis Ende 2017 bei Gstaad-Saanenland Tourismus (GST) für die Kommunikation verantwortlich. Seit Oktober 2019 arbeitet sie in ähnlicher Funktion beim Verein Wikimedia CH, der anerkannten Ländervertretung der Wikimedia Foundation, die die Online-Enzyklopädie Wikipedia unterhält und weiterentwickelt. Die deutschsprachige Wikipedia feiert heute am 16. März ihren 20. Geburtstag. Grund genug, sich die Geschichte hinter dem Produkt erzählen zu lassen.

KEREM S. MAURER
Jede kennt sie, jeder nutzt sie: Wikipedia, die freie Enzyklopädie im Internet. Seit der Gründung 2001 sind laut Wikipedia über zweieinhalb Millionen deutschsprachige Einträge in den verschiedensten Sparten – von Geografie, Geschichte und Gesellschaft über Kunst, Kultur und Sport bis hin zu Technik und Wissenschaft – entstanden. Alle, die wollen, dürfen das Online-Nachschlagewerke kostenfrei nutzen; und alle, die wollen, dürfen sich als Autorinnen oder Autoren für Wikipedia betätigen. Der Verein Wikimedia CH hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Arbeit der Beitragenden zu fördern und Schweizer Gedächtnisinstitutionen dabei zu unterstützen, ihr kuratorisches Wissen, ihre Sammlungen und Ressourcen auf digitale Weise über die globale Plattform frei zugänglich zu machen. Ein weiteres Ziel ist es, auf allen Bildungsebenen einen nachhaltigen Umgang mit digitalen Informationen zu sensibilisieren und sich auf politischer Ebene für freies Wissen einzusetzen.

Bildung muss kostenfrei sein
«Wir bieten freiwilligen Autorinnen und Autoren für ihre Recherchen und Events organisatorische, fachliche oder finanzielle Hilfe an», erklärt Kerstin Sonnekalb, Outreach & Communication Manager bei Wikimedia CH. Sie betont, dass Wikimedia keinerlei Einfluss auf die Autoren ausübe, auf Wunsch aber Tipps gebe, berate oder Türen öffne, damit die Schreibenden, die in ihrer Vielzahl eine grosse Community bilden und «Wikipedianer» genannt werden, sich um die Inhalte von Wikipedia kümmern können. Jedoch ohne dass sie dafür bezahlt und ohne dass ihre Beiträge kostenpflichtig genutzt werden. Warum eigentlich gratis, dahinter steckt doch ein enorm grosser Aufwand? «Frei zugängliches Wissen ist die Basis von Bildung», sagt Kerstin Sonnekalb und verweist auf einen Wikipedia-Artikel, wonach das Recht auf Bildung ein Menschenrecht gemäss der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen ist. Ebenso ist das Recht auf Bildung im Artikel 28 der Kinderrechtskonvention verankert. «Dieses Menschenrecht ist ein zentrales Instrument, um die Verwirklichung anderer Menschenrechte zu fördern», zitiert Sonnekalb und begründet damit die Wichtigkeit eines allgemeinen, freien Zugangs zu Wissen und Information. «Bildung ist die Voraussetzung für die Fähigkeit des Menschen, sich für die eigenen Rechte einzusetzen und sich im solidarischen Einsatz für grundlegende Rechte anderer zu engagieren.»

Ohne Quellenangabe geht nichts
Kerstin Sonnekalb erzählt, dass sie zu ihren GST-Zeiten einen Artikel zu Gstaad bei Wikipedia überarbeiten wollte. Dreimal seien ihre Einträge gelöscht worden. «Erst dachte ich, das kann doch nicht sein», erinnert sie sich lachend. Heute weiss sie warum: Schreiben über sich selbst – und darauf ist es hinausgelaufen, wenn sie als GST-Mitarbeiterin über Gstaad schrieb – ist bei Wikipedia genauso so ein Tabu wie bezahltes Schreiben. «Darüber wacht die Community mit grosser Strenge», so Sonnekalb. Genau diese Strenge stelle das Rückgrat für die Vertrauenswürdigkeit und die Unabhängigkeit der Informationen auf Wikipedia dar, und: «Sie ist ein wichtiger Faktor für die Reputation der Online-Enzyklopädie.» Alle, die können und wollen, dürfen Artikel für Wikipedia schreiben oder bearbeiten. Dafür reicht es, bei einem Artikel auf «bearbeiten» zu klicken – schon kann man loslegen. Ein Benutzerkonto braucht es dafür nicht, aber: «Man sollte sich zuvor über die Grundregeln im Autorenportal informieren», rät die Kommunikationschefin des Fördervereins. Ausserdem erhalte man in Editier-Workshops gute Gelegenheiten, Erfahrungen zu sammeln und wer Hilfe brauche, könne sich jederzeit an Wikimedia CH wenden. Doch eines sollte sich jeder Wikipedianer zu Herzen nehmen: Alle Fakten, die in einem Artikel auftauchen, müssen mit Quellen belegt werden! Auf einer Extraseite ist aufgelistet, was Wikipedia alles nicht ist und nicht sein will. «Wir erheben weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf die absolute Wahrheit. Wikipedia empfiehlt sich als Ausgangspunkt für weiterführende Recherchen», betont Kerstin Sonnekalb.

Schweizweit Top fünf
Der Reiz, als Autor bei einer der weltweit meistbeachteten Internetplattformen mitzuarbeiten und in dieses «unglaublich vielfältige Netzwerk» einzutauchen, sei gross, weiss Kerstin Sonnekalb. Wikipedia gibt es in 300 verschiedenen Sprachen und rangiert weltweit unter den Top Ten der meist aufgesuchten Seiten. In der Schweiz sogar Top fünf. Wie viele aktive Wikipedianer es gibt, ist schwer zu sagen, in der Schweiz seien es etwas mehr als tausend. Doch nur etwa 10 Prozent von ihnen sind Frauen, Tendenz steigend. «Wir versuchen, diesen Gender-Gap durch gezielte Workshops in Zusammenarbeit mit verschiedensten Partnerorganisationen nach und nach zu schliessen», so Sonnekalb, für die diese Geschlechterkluft aufgrund der historischen Stellung der Frauen in der Gesellschaft nachvollziehbar ist. Finanziert wird Wikimedia Schweiz ausschliesslich über Spenden. Wer regelmässig auf Wikipedia unterwegs ist, kennt die entsprechenden Spendenaufrufe.

Zweite Heimat Saanenland
Kerstin Sonnekalb vergleicht Wikimedia gern mit Gstaad-Saanenland Tourismus. Vieles sei relativ ähnlich, sagt sie augenzwinkernd, so zähle der Förderverein Wikimedia beispielsweise auch 280 Mitglieder. Das Team der hauptamtlichen Mitarbeitenden besteht aus zehn Personen, die allesamt Teilzeit arbeiten. «Ich bin mit 90 Prozent diejenige mit dem grössten Mandat», erzählt sie. Ihr Job ist es, die Geschichte hinter einer der weltgrössten Internetplattformen zu erzählen, die Kommunikation gegen aussen zu managen. Wenn Kerstin Sonnekalb eine kleine Auszeit braucht, wenn sie ihre Seele baumeln lassen will, dann kommt sie gerne zurück ins Saanenland, welches sie als ihre zweite Heimat bezeichnet. Obschon oder vielleicht gerade weil sie jetzt im Kanton Waadt lebt, hoch über dem Genfersee.


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