Karneval in Tres Soles und in Bolivien

  12.03.2021 Leserbeitrag

Wir bleiben auch in dieser Bolivienspalte bei den Bräuchen. Ein anderer, nicht nur in Bolivien weitverbreiteter Brauch ist Karneval. Gerne hätte ich ganz aktuell darüber berichtet, doch die Pandemie hat dieses Jahr überall auf der Welt jede Form von Karnevalsbrauchtum verhindert.

Normalerweise wird der Karneval in Bolivien, wie überall in Südamerika, besonders ausgiebig gefeiert, mindestens vier Tage lang, an einigen Orten eine ganze Woche oder sogar mit Unterbrechungen einen ganzen Monat. Da auf der südlichen Erdhalbkugel Sommer ist, spielt das Wasser im Karneval eine grosse Rolle. Die Karnevalsumzüge bestehen vor allem aus Volkstanzgruppen, die unentwegt tanzen. Weltberühmt ist der Umzug in Oruro, an dem Zehntausende von reich kostümierten Tänzerinnen und Tänzern durch die Strassen ziehen. Leider ist der Karneval mit reichlich Alkoholkonsum verbunden. Jährlich gibt es denn auch Dutzende von «Karnevalstoten», die bei Schlägereien, durch Unfälle und Alkoholvergiftungen sterben und die so berühmten sprichwörtlichen «Karnevalskinder» werden bedauerlicherweise neun Monate später geboren, ohne dass sie je wüssten, wer ihr Vater ist. Diese Bräuche und Traditionen – natürlich ohne Alkoholgenuss – sind ein fester Bestandteil der Aktivitäten von Tres Soles und Teil unserer Jahresplanung. In den Zielsetzungen der Jugendlichen, die für jede erzieherische Aktivität festgelegt werden, heisst es: «Wir pflegen unsere Bräuche, weil wir stolz darauf sind, Bolivianer zu sein und weil wir uns dabei akzeptiert fühlen», und in einer der Nebenzielsetzungen: «Durch gemeinsames Feiern können wir unsere zwischenmenschlichen Beziehungen verbessern.» Und genau das ist es, was wir wollen, wenn wir in Tres Soles Karneval oder andere Bräuche feiern. Es geht einerseits um die Identitätsfindung und um die Stärkung des Selbstbewusstseins, andererseits schlichtweg darum, dass sich die Kinder und Jugendlichen besser vertragen und ein friedliches Miteinander erreicht wird.

Der für uns wichtigste Tag an den Karnevalstagen ist der Dienstag, an dem die sogenannte «ch’alla» stattfindet. Das Wort «ch’alla» bedeutet sowohl in Aymara als auch Quechua «Besprengung». Das Grundstück oder das Haus, das man bewohnt, wird mit Alkohol besprengt. Ausserdem werden an die Pachamama, Mutter Erde, als Dank Gaben dargebracht. Auf dem Land ist die «ch’alla» besonders wichtig, da die Pachamama für eine erfolgreiche Ernte und eine ebenso erfolgreiche Viehzucht günstig gestimmt werden soll. Dass Karneval ein christlich-katholischer Brauch und die Pachamama eine Göttin der alten Inka ist, scheint für niemanden ein Problem zu sein. Beide haben zusammengefunden und sich auf faszinierende Weise vermischt, obwohl die spanischen Kolonialherren während vielen Jahrhunderten versucht haben, die Gottheiten und Bräuche der indigenen Bevölkerung auszurotten.

Um ihre «Schäfchen» nicht zu verlieren, ist der katholischen Kirche nichts anderes übrig geblieben, als diese kulturellen Eigenheiten, «eigentlich heidnische Bräuche», wie einige Pfarrer immer noch betonen, zu akzeptieren. Am Karnevalsdienstag wird das Haus oder das Grundstück also mit Girlanden, Luftballons und bunten Fähnchen verziert. «Diese bunte Farbenpracht soll die Fülle und die Fruchtbarkeit der Natur symbolisieren. Auch die Tiere auf dem Land werden prächtig geschmückt», erklärt Doña Olga, eine Andenpriesterin und Naturheilerin. Wir haben sie vor Jahren kennengelernt, als meine Familie und ich bei ihr eine Zeit lang zur Miete wohnten. Dann wird auf einem Kohlebecken eine Opfergabe, die sogenannte «k’oa», vorbereitet, bestehend aus unterschiedlich geformtem Zuckergebäck. «Jeder Form wird eine Bedeutung zugemessen», klärt uns Doña Olga auf, während sie mit grossem Sachverstand die Opfergaben zusammenstellt: «Ein Häuschen aus Zucker bedeutet das Wohlergehen der Familie, ein Schmetterling verheisst Glück und Schuhe stehen für Wünsche, die erfüllt werden. Hinzukommen Wein, Nüsse und getrocknete Kräuter, zum Beispiel die ‹k’oa›, die der ganzen Opfergabe den Namen gibt.»

«Und was hat es mit dieser ‹k’oa› auf sich?», frage ich.

«Die ‹k’oa› verbreitet beim Verbrennen einen besonderen Geruch, dem Weihrauch in der Kirche ähnlich», erwidert Doña Olga. «Dieser Rauch und dieser Geruch sind es, die die Opfergabe zur Pachamama bringen.»

Es gibt sogar einige «yatiris», wie die Andenpriester genannt werden, die behaupten, dass man aus der Asche, die nach der Verbrennung zurückbleibt, die Zukunft lesen kann. Ist die Asche weiss, vergräbt man sie in einer Ecke des Grundstücks oder in einem Blumentopf und sie bringt das ganze Jahr über Glück. Ist sie schwarz, soll sie in den Müll geworfen und entsorgt werden, damit sie der Familie kein Unglück bringt. Wie dem auch sei, die Kohlen unter der Opfergabe, die Doña Olga vorbereitet hat, werden angezündet. Unsere Musikgruppe, die an solchen Feierlichkeiten immer den musikalischen Rahmen bildet, singt und spielt einige Lieder, die sie mit dem Musiklehrer, der durchschnittlich drei Stunden pro Woche zu uns kommt, für diese Gelegenheit eingeübt hat. Sobald die Opfergabe verbrannt ist, wird die Asche im Kohlebecken im ganzen Haus herumgetragen, damit der Rauch bis in die hintersten Winkel dringen kann. Die Räume werden mit Alkohol besprengt und Blumenblätter und Zuckerkügelchen verstreut – ganz im Sinne des Wortes «ch’alla». Anschliessend wird reichlich gegessen und getrunken. In Tres Soles wird meistens gegrillt und danach nach Herzenslust mit Wasser gepanscht. Die Kinder und Jugendlichen graben im Garten ein Schlammloch, in das sie hineinspringen und sich darin herumwälzen. Irgendwie scheint es die Anziehungskraft der Mutter Erde, der Erdgöttin, zu sein, die an diesem Tag besonderes stark ist und die Menschen zu solchen Spässen treibt. Natürlich ist es für die Kleinsten ein besonderer Spass, sich an diesem Tag einmal so richtig schmutzig machen zu dürfen, ohne dass sie jemand ausschimpft. In Tres Soles heisst es, dass niemand ein richtiger Solesianer ist, wenn er nicht in diesem Loch «getauft» wurde. Das Cover meines Buches «Die Strassenkinder von Tres Soles» zeigt übrigens das Gruppenfoto, das nach einer solchen Schlammschlacht entstanden ist.

STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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