Weniger ist mehr

  26.03.2021 Leserbeitrag

Kurzarbeit dürfte in diesen Zeiten vielen Arbeitnehmern ein Begriff sein. Sie bedeutet: Wenn der Arbeitgeber (temporär) nicht genug Arbeit für seine Angestellten hat, hilft der Staat mit, damit die Arbeitnehmer nicht entlassen werden müssen. Der Arbeitnehmer arbeitet also weniger, bekommt vom Arbeitgeber auch entsprechend weniger Lohn. Aber der Staat füllt zwei Drittel der so entstehenden Lohnlücke auf, damit die Angestellten schon fast auf das gleiche Lohnniveau bei weniger Arbeit kommen.

Etwas Ähnliches geschieht gerade in Spanien, aber mit ganz anderen Vorzeichen. Die Regierung hat nämlich vor einer Woche bekannt gegeben, dass sie ein Pilotprojekt für eine Viertagewoche in 200 ausgewählten Betrieben unterstützt. Das heisst: Ausgewählte Arbeiter in Spanien müssen für ihren 100-Prozent-Lohn bald nur noch vier Tage pro Woche arbeiten.

Das hat aber nicht mit fehlender Arbeit zu tun, im Gegenteil: Man habe festgestellt, dass man die Produktivität der Angestellten mit mehr Arbeitsstunden nicht erhöhen könne, heisst es in der Begründung. Und weniger Arbeit bedeute weniger Krankheitstage, motiviertere Mitarbeiter und dadurch wieder erhöhte Produktivität.

Dieser Schritt der spanischen Regierung hat international für Aufsehen gesorgt. Die Idee wird aber leider nicht vertieft betrachtet, weil die Urheberschaft der Idee zu klischeehaft ist: Es ist die linke Partei «Más País». Das unterfüttert natürlich bei vielen das Vorurteil, dass diese Idee zwar schön für die Mitarbeiter sein kann, sich aber wirtschaftlich nicht lohnt.

Das ist eine Vorstellung, welche die ganze Misere des Kapitalismus zeigt: Das Wohlergehen des Mitarbeiters wird als Widerspruch zum wirtschaftlichen Erfolg einer Firma betrachtet. Bei fast allen wirtschaftlichen Entscheidungen wird damit argumentiert, dass sich diese beiden Faktoren die Waage halten sollen. Als ob es wirtschaftlichen Erfolg nur mit unzufriedenen Mitarbeitern oder zufriedene Mitarbeiter nur mit wirtschaftlichen Einbussen zu haben gäbe.

Schlaue Firmen haben längst begriffen, dass man mit guten Arbeitsbedingungen gute Mitarbeiter anlocken kann – und dass Mitarbeiterzufriedenheit zu längerer Verweildauer in der Firma führt und diese Verweildauer unbezahlbar ist, weil es auch bedeutet, dass das Know-how der Mitarbeiter in der Firma bleibt.

Das ist zwar lobenswert, betrachtet das Problem aber längst noch nicht im genügend grossen Rahmen: Die Gesundheit (und die Motivation) der Mitarbeiter soll nämlich keine Option sein, sondern eine Grundlage für bezahlte Arbeit. Denn Firmen, die ihre Arbeiter ausnutzen, wird es zu einfach gemacht: Sie können Arbeiter schlecht bezahlen und behandeln, weil sie für die daraus entstehenden Kosten nur zu einem kleinen Teil geradestehen müssen. Krankenkassen, Arbeitslosenversicherung, Bildung für den Nachwuchs: Das sind nur wenige Gebiete, die durch einen schlechten Arbeitgeber beeinflusst werden können – und dessen Kosten vom Staat, also der ganzen Gesellschaft – getragen werden. Oder anders formuliert: Schlechte Arbeitgeber profitieren in einem viel höheren Mass von unseren sozialen Auffangnetzen als gute Arbeitgeber.

Mich persönlich stört das schon lange. Ob die staatlich verordnete Viertagewoche die beste Lösung für dieses Problem ist, kann man zu recht bezweifeln. Aber der Gedanke dahinter ist zentral: Hat sich erst einmal die Einsicht durchgesetzt, dass Arbeiterzufriedenheit und wirtschaftlicher Erfolg sich nicht grundsätzlich widersprechen, macht das den Weg frei für haufenweise Ideen, die das Leben aller besser machen.

SEBASTIAN DÜRST
[email protected]


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