Lernen auf der Alp

  07.05.2021 Gesellschaft, Schule

Die Alpzeit naht. Für einige Bauernfamilien heisst das wieder Umzug auf die Alp ab Juni für etwa 80 Tage. Die Kühe umsorgen, Stallarbeiten, käsen. Eine Herausforderung für Familien mit schulpflichtigen Kindern. Wie schaffen sie den Balanceakt zwischen Schulpflicht und Alpbewirtschaftung?

SONJA WOLF
«Es funktioniert eigentlich tipptopp», resümiert Bäuerin Nicole Herrmann. Familie Herrmann bewirtschaftet ihre Alp für einen besonders langen Zeitraum. Etwa 100 Tage lang wohnt die ganze Familie – Eltern, drei Kinder und auch Nicole Herrmanns Eltern – auf der Wildeggli-Alp oberhalb Saanenmöser. Die Sommerferien dauern allerdings nicht von Anfang Juni bis Mitte September; da gilt es, einige Unterrichtswochen zu überbrücken. Was machen in dem Fall der fünfjährige Philipp, die achtjährige Alessia aus der zweiten Klasse und der elfjährige Lukas aus der vierten Klasse?

Unterrichtsfrei, aber keine Ferien
«Für den Juni nutzen wir den Alpdispens», berichtet Nicole Herrmann. Es handle sich dabei um ein Gesuch, den entsprechenden Schüler bis zu drei Wochen vom Unterricht zu befreien, erklärt Martin Pfanner, Schulinspektor des Verwaltungskreises Obersimmental-Saanenland. Der Dispens könne vom Schulleiter bewilligt werden, wie es bei den Volksschulen von Lauenen und Gsteig-Feutersoey auch der Fall ist. Die Saaner Eltern schicken die Gesuche dagegen direkt an das Schulsekretariat der Gemeinde.

Und wie holen die Kinder den Stoff nach? «Die Stammschulen unterstützen die Bauernfamilien bestmöglich, indem die Lehrpersonen das Unterrichtsmaterial vorbereiten und zur Verfügung stellen», erläutert Pfanner.

Herbst in der Alpschule
Mit 15 Schultagen Alpdispens lässt sich das Ende des Schuljahres überbrücken, aber dann ist die Alpsaison natürlich noch nicht zu Ende. Wie geht es mit Lukas, Alessia und Philipp weiter, wenn im August das neue Schuljahr beginnt, die Familie aber noch vier bis fünf Wochen mit dem Käsen auf der Alp beschäftigt ist? «Wenn eine Familie mehr als die drei zulässigen Wochen Alpdispensation braucht, muss beim Schulinspektorat eine Bewilligung für privaten Unterricht eingeholt werden», so Martin Pfanner. Nach Artikel 71 des Volksschulgesetzes sind die Eltern in dieser Zeit für die Schulung verantwortlich. «In der Regel werden für diese Monate Lehrpersonen oder Studentinnen und Studenten der Pädagogischen Hochschule engagiert und von den Familien, die auf der Alp sind, finanziert.» Diese Lehrpersonen planen und organisieren laut Schulinspektor Pfanner den Unterricht. Sie kommen in regelmässigen Abständen auf die Alp, kontrollieren die erledigten Aufträge und unterrichten dort teilweise auch direkt die Kinder. Pfanner: «Nach den Herbstferien nehmen die Kinder wieder normal am Unterricht ihrer Stammklasse teil.»

Nicole Herrmann hat mit ihren Studenten der Pädagogischen Schule Bern nur gute Erfahrungen gemacht. «Die jungen Leute freuen sich über die wertvollen Erfahrungen, die sie in ihrem künftigen Lehrberuf machen.» Die meisten würden am Vormittag die Kinder unterrichten und am Nachmittag die zusätzliche Gelegenheit wahrnehmen, in der Landwirtschaft mitanzupacken, um auch auf diesem Gebiet etwas dazuzulernen. «Für diese Arbeiten werden sie natürlich extra entlöhnt neben ihrem Lehrergehalt. Kost und Logis sind sowieso inklusive», präzisiert Nicole Herrmann. Das Verhältnis zu den Studenten sei so gut, dass sich oft Freundschaften über die Alpschule hinaus entwickeln.

Option Fahren oder bei Verwandten wohnen?
Wäre es keine Option, die Kinder jeden Tag von der Alp zur Schule zu fahren und auch wieder abzuholen? Oder könnten die Kinder nicht im Tal bei Verwandten oder beim Götti wohnen, um ihrer Schulpflicht regelmässig nachzukommen? Alle betroffenen Bauernfamilien wägen diese Methoden sorgfältig ab. Der eindeutige Tenor aber bei allen Familien: Es muss individuell für das Kind und auch in die Organisation der Familie passen. Bei Familie Herrmann zum Beispiel würde der Hin- und Rückweg mit dem Auto bereits eine Stunde ausmachen. Um die drei Kinder dann bei verschiedenen Schulen zu verschiedenen Anfangszeiten abzusetzen, würde Mama Herrmann schon anderthalb Stunden von Kühen und Stallarbeiten fernbleiben. Mittags oder nachmittags ebenso.

Auch bei Verwandten oder Freunden zu wohnen ist nicht für alle Kinder geeignet, denn einige – besonders die jüngeren – leiden unter Heimweh, wenn sie viele Tage von der Familie getrennt sind.

Entscheidungen zum Wohl des Kindes
«Alpdispense und die Alpschule funktionieren in der Praxis sehr gut», freut sich Schulinspektor Martin Pfanner. «Die betroffenen Familien gehen sehr verantwortungsvoll mit dem Thema um.» Viele Familien würden sich daher nach reiflichen Überlegungen auch für Mischformen entscheiden.

Die siebenjährige Tanja Müllener zum Beispiel geht sehr gerne in die Schule. Ihre Eltern Regula und Hansueli verzichten daher auf die Alpschule und nehmen auch die drei Wochen Alpdispens nur tageweise in Anspruch. Sie schauen individuell mit der Lehrperson, welche Tage für eine Absenz geeignet sind und wann Tanja unbedingt anwesend sein sollte. Mit einem befreundeten Ehepaar konnten Mülleners arrangieren, dass ihre Tochter jederzeit dort wohnen kann, sie übernehmen dafür gerne dessen Kühe. Nachbarschaftshilfe in ihrer effektivsten Form.

Andere Kinder wie der 15-jährige Andri Michel ziehen die Alpwirtschaft der Schule bei Weitem vor. Die recht kurze Alpzeit von gut acht Wochen auf der Alp Turnels ist durch die sechswöchigen Sommerferien zwar relativ gut abgedeckt. Dennoch müsste er etwa zwei Wochen Dispens nehmen, was er aber aus Pflichtbewusstsein nicht einmal macht: Zum Schuljahresbeginn wohnt er bei den Grosseltern im Tal und besucht regelmässig den Unterricht. Dazu raten auch alle Lehrpersonen und Schulleiter der Stammschulen, denn in den ersten Tagen im neuen Schuljahr ist die physische Präsenz besonders wichtig. Die eigentlich schönen Ausflüge und Anlässe am Schuljahresende lässt Andri dagegen gerne zugunsten der Alpzeit ausfallen. Seine Mutter Ursi Michel lacht: «Andri ist ein Vollblutchüehjer. Er sagt selbst: ‹Jeder Tag auf der Alp ist wie ein Geburtstag!›»

Erhalt einer speziellen Lebensform
Alpdispensationen und Alpschule scheinen also gut funktionierende, gesellschaftlich fest etablierte Praktiken zu sein. In einer Statistik aus der Gemeinde Saanen sieht man allerdings, dass die Gesuche seit 2012 kontinuierlich abgenommen haben. Die Gründe könnten darin liegen, dass es einfach immer weniger Bauernfamilien gibt, die zum Käsen auf die Alp gehen. Umso wichtiger erachten es alle beteiligten Parteien, dass diese Lebensform möglich und die Tradition erhalten bleibt. Daher unterstützen das kantonale Schulinspektorat sowie die Schulleiter und Lehrer der Schulen in Saanen, Gstaad und Lauenen die betroffenen Familien mit individuellen Beratungen und Materialien, sodass den Schülern keine Nachteile entstehen.


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