Luftiges Manöver

  26.05.2021 Gsteig

Die Vorfreude steigt, während man gemütlich in der Gondel sitzt und die traumhaft schöne Aussicht geniesst. Nur noch wenige Meter bis man sich die Ski anziehen und die Piste hinunterrasen kann. Und plötzlich: Wegen technischer Probleme kommt die Seilbahn zum Stehen, ihre Insassen müssen evakuiert werden. Einen solchen Notfall probt das Team der SAC-Rettungsstation Gstaad einmal im Jahr ... und dieses Mal war ich als Journalistin live dabei.

SOPHIA GRASSER
Wir trafen uns bei der Seilbahn Sanetsch, wo sich das Team der SAC-Rettungsstation Gstaad sofort ans Werk machte. Gurt und Helm wurden angelegt, bevor Rettungschef Ueli Grundisch erste Instruktionen gab. Auch ich stellte mich mental wie materiell auf den Ernstfall ein, indem ich mich in meine Ausrüstung warf. Meinen Sicherheitsgurt zog ich besonders fest an und den Sitz meines Helmes kontrollierte ich noch während der gesamten Einweisung − schliesslich springt man nicht alle Tage aus einer Gondel, die 30, nein 60 Meter über dem Erdboden hängt.

Wenige Minuten später versammelten wir uns um die Gondel, die uns gleich nach oben befördern würde. Ein letztes Mal erklärte und demonstrierte einer der Bergretter den Ablauf des Manövers − wie sich die Kabinentüren manuell öffnen liessen oder wann die etlichen Seile und Karabinerhaken Verwendung fänden. Ich verstand zugegebenermassen recht wenig von den fachlichen Instruktionen und musste auf meine Retter vertrauen, die immerhin zuversichtlich wirkten. Währenddessen gesellte sich ein Herr mit seinem achtjährigen Sohn zu uns − Zuschauer gab es also auch noch. Naja, vermutlich würde ich in einer solchen Höhe über dem Abgrund schwebend ganz andere Sorgen haben.

Dann ging es ans Eingemachte: Der erste Teil der Truppe machte sich auf den Weg nach oben, während die andere Hälfte − inklusive mir − zum Rettungspunkt marschierte. Ich blickte hinauf zur Gondel, die 30 Meter über dem Boden hing. «Von hier unten sieht das doch gar nicht so hoch aus», redete ich mir Mut zu. Ich konnte ahnen, dass in der Kabine bereits Vorbereitungen getroffen wurden. Wenige Minuten später seilte sich der erste Bergretter ab ... und landete inmitten von Ästen und Gestrüpp. Sollte das so sein? Müsste ich mich die letzten Meter zurück auf den Boden durch die Baumkronen kämpfen? «Nein, nein», beruhigte mich Rettungschef Ueli Grundisch. Das sogenannte Leitseil, das anschliessend zum Einsatz kam, lenkte die weiteren Insassen auf eine freie Fläche. Einer nach dem anderen fand seinen Weg zurück auf die Erde. Ja, das Ganze lief eigentlich buchstäblich wie am Schnürchen. Und je länger ich das Schauspiel beobachtete, desto entspannter wurde ich.

Doch meine Aufregung kehrte zurück, als sich die zweite Hälfte des Rettungstrupps auf dem Weg zum Ausgangspunkt und bereit für die Gondelfahrt machte. Wir stiegen also ein – zuletzt der kleine Junge, den ich anfangs für einen neugierigen Zuschauer gehalten hatte. In Ausrüstung und ohne Hemmungen gesellte er sich zu uns. Wenn sogar ein Schulkind das Wagnis furchtlos auf sich nahm, würde ich das doch mühelos durchstehen. Die Seilbahn setzte sich in Bewegung, wir fuhren los. Moment ... die 30-Meter-Marke hatten wir schon längst überschritten. Wir hielten schliesslich über einem Abhang und befanden uns in einer Höhe von circa 60 Metern. Augen zu und durch – ein Rückzug kam nicht infrage. Das Rettungsteam präparierte die Kabine, brachte jegliche Seile zum Vorschein und befestigte sämtliche Karabinerhaken. Während der Vorbereitungen meldete sich der Junge zu Wort: «Ihr müsst das sehr sorgfältig machen», mahnte er das
Team. Auf das Kerlchen als Kommandanten war also Verlass. Schwierigkeiten bereitete kurzzeitig das manuelle Öffnen der Türen. Dann blieben sie eben zu, das schien mir nicht das Schlechteste. Doch schon bald war die kleine Komplikation gelöst und der achtjährige Bursche machte sich bereit zum Abseilen.

Meine Nervosität legte sich ein bisschen, als wir nicht 60 Meter nach unten, sondern seitwärts des Hangs auf einen Wanderweg gelenkt wurden. Nach dem Abseilen drei weiterer Teammitglieder war schliesslich ich an der Reihe. Meine Ausrüstung wurde mit dem Leitseil verbunden, sodass ich gesichert war. Im nächsten Schritt sollte ich in die Hocke gehen und den Gurten vertrauen, die mich in der Luft hielten. Gleich würde ich aus der Kabine treten – und 60 Meter über dem Erdboden hängen. Bloss nicht kneifen. Der Schritt aus der Gondel kostete mich einige Überwindung und ich gestehe: Den Blick nach unten wagte ich auch nicht. Ich konzentrierte mich stattdessen auf die Teammitglieder, auf die ich geradewegs zusteuerte. In gemächlichem Tempo kam ich dem Wanderweg immer näher – es war ja gar nicht so schlimm. Ich entspannte mich auf halber Strecke und überlegte sogar, der Truppe zuzuwinken. Doch ich klammerte mich lieber an mein Seil, ich musste ja nicht gleich übermütig werden. Nur noch wenige Meter, dann hatte ich es geschafft.

Als ich unmittelbar über dem Wanderweg hing, musste ich zunächst mit meinen Füssen strampeln, um den Boden zu erreichen und mich aufzurichten. Ich dachte unweigerlich an meine Kindheit und die zahlreichen Besuche auf dem Spielplatz – wenn beim Absteigen von der Tyrolienne die Beine zu kurz waren. Doch schliesslich stand ich mit beiden Füssen auf der Erde und wurde gleich von den zahlreichen Seilen und Karabinerhaken befreit. Halleluja! Die anschliessende Frage von Rettungschef Ueli Grundisch «Und, war es schlimm?» musste ich rückblickend verneinen. Nein, schlimm war es wirklich nicht, aber aufregend allemal. Inzwischen erfüllte mich Erleichterung und auch ein bisschen Stolz, die Rettungsaktion gemeistert zu haben – selbst, wenn es zugegebenermassen nicht viel Einsatz meinerseits bedurfte. Und wenn ich tatsächlich einmal in einer Gondel festsitzen sollte, weiss ich nun, dass es keinen Grund zur Panik gibt.


ZUR SERIE

Mein Entdeckerherz schlägt höher: Seit meiner Ankunft in der Schweiz bin ich immer wieder überrascht, was das Saanenland zu bieten hat. Da ich aus der Nähe von München komme, tauche ich zum ersten Mal in die Welt aus Gipfeln, Tälern und Bergdörfern ein und lasse mir natürlich keine Gelegenheit entgehen, jede Tradition hautnah zu erleben und jeden Fleck ausgiebig zu erkunden. Ich nehme Sie mit auf meine persönliche Reise.


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