«Im Gegensatz zu früher sind die Väter heutzutage sichtbarer geworden»

  25.06.2021 Porträt

Marlene von Siebenthal ist im Saanenland seit 37 Jahren das Gesicht der Mütter- und Väterberatung. Fast alles hat sich verändert – ausser der Fokus der Eltern auf die Gesundheit ihres Kindes.

BLANCA BURRI
«Der Druck auf junge Mütter und Väter stieg in den vergangenen Jahren», hält Marlene von Siebenthal fest. Sie muss es wissen, seit 37 Jahren ist sie für die Mütter- und Väterberatung Kanton Bern tätig. «Die Anforderungen der Eltern im Beruf sind gross und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie eine Herausforderung», beobachtet sie. In vielen Haushalten würden beide Elternteile arbeiten, weil es finanziell nicht anders gehe oder weil sich die Erwachsenen mit dem Beruf identifizierten und ihnen das Arbeiten deshalb gut tue. Der Anspruch der Eltern, es privat wie beruflich gut zu machen, sei vorhanden. Damit würden sich die Eltern Druck aufbauen und das sei unnötig, denn aus Fehlern lerne man. «Fehler bringen uns weiter», entlastet sie junge Eltern.

Programm statt freies Spiel
Eine weitere Herausforderung für junge Familien ist das vielfältige Angebot für Kleinkinder. Wenn die frühe Kindheit bereits stark verplant ist, bleibe weniger Zeit für das freie Spiel, eine der wichtigsten Entwicklungsfaktoren im frühkindlichen Alter, so von Siebenthal. Dazu trage auch die veränderte Wohnsituation bei. Früher hätten viele Kinder die Zeit fast ausschliesslich im familiären Kreis verbracht und mit den Nachbarskindern vor dem Haus oder im Wald gespielt. «Heute gehen die Kinder mehrheitlich zu Tageseltern und in die Kita. Heute ist es anders und es ist auch gut so», hält die Mütter- und Väterberaterin fest und betont, dass Veränderungen normal seien. «Man kann nicht sagen, etwas ist besser oder schlechter geworden – es ist anders geworden!» Zum Beispiel gebe es heute Spielgruppen und insbesondere Waldspielgruppen, in denen sich Kleinkinder gut entwickeln könnten.

Eine weitere Herausforderung erwähnt von Siebenthal explizit: Seit die Kinder mit vier Jahren in den Kindergarten kommen, übe die frühere Einschulung Druck auf Kinder, Eltern und Lehrpersonen aus, insbesondere dann, wenn die Kinder entwicklungsbedingt noch nicht so weit sind. «Manche Kinder tragen vor dem Kindergarteneintritt noch Windeln und das wird deshalb in der Beratung nicht selten zum Thema.»

Marlene von Siebenthal wünscht sich von der Politik mehr Unterstützung für Familien, gerade in finanzieller Hinsicht, unabhängig davon, ob die Kinder zu Hause oder in der Kita betreut werden: «Das würde die Eltern entlasten, da bin ich mir sicher.»

Ist alles normal?
Grundsätzlich hat sich in den Kernfragen der Mütter und Väter in den vergangenen vier Jahrzehnten wenig verändert. Standardfragen lauten: Ist mein Kind gesund? Ist alles normal? Gedeiht es gut? Welche Nahrungsmittel soll ich meinem Kind anbieten? Was kann ich tun, damit es sich gut entwickelt? Was kann ich machen, wenn mir mein Kind nicht gehorcht? Die Beraterin erlebt die jungen Eltern im Saanenland als sehr aufgeschlossen. Besonders spannend findet sie die soziale Bandbreite. Eltern aus den verschiedenen Berufssektoren wie Landwirtschaft, Tourismus und Gewerbe, aber auch die Vielfalt der Herkunft bereichern sie. Durch Personenfreizügigkeit und Familiennachzug hat sich das Bild der Personen mit Migrationshintergrund stetig verändert. Anfänglich betreute die Mütter- und Väterberaterin viele italienische, dann spanische Familien und Familien aus dem ehemaligen Jugoslawien. Heute ist die grösste Diaspora portugiesischer Nationalität. Mit ihnen unterhält sich die reiseaffine Fachfrau auf Französisch oder Spanisch.

Kaleidoskop des Lebens
Über Details in ihrer Arbeit mag Marlene von Siebenthal nicht sprechen. Sie erlebte ein Abbild des Lebens, ein Kaleidoskop von Ereignissen, die prägend, erheiternd und traurig waren. «Weil ich die Privatsphäre der Familien respektieren möchte, trage ich die Ereignisse nicht an die Öffentlichkeit.» Wenn man Marlene von Siebenthal zuhört, stellt sie den Beruf in den Vordergrund und sich in den Hintergrund. «Es kann sein, dass ich den elterlichen Anliegen im Laufe meiner Berufstätigkeit nicht immer gerecht werden konnte», sagt sie selbstkritisch.

Ihre Art zeigt die 65-Jährige in einer Beratungsstunde, der die Zeitung beiwohnte. Mit ruhiger, entspannter Stimme begrüsst sie die Familie. Hauptperson Martim schläft in der Babyschale. Während seines Verdauungsschlafs unterhält von Siebenthal sich mit den Eltern über sein Allgemeinbefinden und seine Essgewohnheiten. Wo nötig gibt sie Tipps. Schliesslich nimmt die Mutter Martim auf die Arme. Schlaftrunken öffnet er die Augen. Dann macht Martim wegen seines Staunens über die fremde Umgebung grosse Augen. Später entspannt er sich und beginnt zu spielen. Jetzt bringt ihn sein Bruder Miguel auf den Wickeltisch, wo er etwas mit ihm spielt. Die Mütter- und Väterberaterin benennt gelassen Martims Verhalten – wirkt sozusagen als Dolmetscherin für das Baby, bis sie sicher ist, dass es ihm gut geht. Nun tritt Miguel einen Schritt zur Seite und Marlene von Siebenthal spielt mit dem Fünfmonatigen und beobachtet dabei, ob er gut hört und sieht. Sie misst seinen Kopfumfang und die Körpergrösse. Im Anschluss werden die Daten im Laptop erfasst. Martim kümmert das nicht. Splitternackt spielt er unter Aufsicht seiner Eltern mit seinen Zehen.

20 Minuten
Nicht nur die Herausforderungen für die Eltern haben sich gewandelt, sondern auch die Beratung an und für sich. Früher blieben die Mütter für bis zu zwei Wochen im Wochenbett. Die erste Kontaktaufnahme der Mütter- und Väterberaterin fand meist am Wochenbett statt. Danach folgten Hausbesuche, manchmal auf die Alp. Später kamen 95 Prozent der Eltern – damals meist die Mütter – in einem vorgegebenen Rhythmus zur Beratung. Zu Beginn ihrer Tätigkeit standen 20 Minuten für den Gesundheitscheck zur Verfügung. «Damals boten wir die Beratung für Säuglinge und Kleinkinder von null bis zwei Jahre an.» In den 90er-Jahren waren es 30 Minuten und heute ist es, je nach Bedarf der Eltern, bis zu einer Stunde.

Eine Stunde
Inzwischen werden die Mütter viel früher aus dem Spital entlassen. Die Hebammen übernehmen die Nachversorgung in den ersten paar Wochen und die Mütter- und Väterberatung kommt erst ins Spiel, wenn die Säuglinge rund acht Wochen alt sind. Die Kontaktaufnahme erfolgt heute – ausser in Corona-Zeiten – durch die Eltern. «Unser Auftrag ist ein anderer geworden. Der pflegerische Anteil ist teilweise weggefallen, wir stehen heute beratend für die Gesundheit, Entwicklung und Erziehung zur Seite, und zwar für Kinder von null bis fünf Jahren.» Durch den Geburtenrückgang haben sie heute mehr Zeit für die Beratungen.

Früher fanden Beratungen auch in den Bäuerten statt, die Mütter tauschten sich da mit der Beraterin über spezifische Themen aus. Seit 2019 können wiederum Gruppenberatungen in moderner Form – zu Covid-Zeiten auch via Online-Gruppenchats oder vor Ort – durchgeführt werden.

Wo sind die Väter?
«Im Gegensatz zu früher sind die Väter heutzutage sichtbarer geworden», sagt Marlene von Siebenthal. «Ich habe in meiner beruflichen Laufbahn viele liebende und stützende Väter kennengelernt. Heute sind sie präsenter und übernehmen öfter Betreuungsaufgaben.» Immer häufiger teilten sich die Mütter und Väter auch den Besuch bei der Beratung oder kämen als Familie.

Nochmals gleiche Laufbahn?
Ob die gelernte Kinderkrankenschwester aus heutiger Sicht wieder denselben Weg einschlagen würde, ist sie nicht ganz sicher. «Zur Mütter- und Väterberatung habe ich gewechselt wegen meinem Interesse, mit Familien zu arbeiten und weil die Arbeitsform für mich ideal war. Das selbstständige Arbeiten und die freie Zeiteinteilung haben mir entsprochen.» Sie habe sich zunehmend in der Region vernetzt. Sie ist vielseitig interessiert und denkt, dass sie mit den heutigen Möglichkeiten vielleicht einen anderen Weg eingeschlagen hätte. Aber damals sei das Angebot im Gesundheitswesen gerade für eine berufstätige Mutter überschaubar gewesen.

Drei Arbeitgeber, eine Arbeitsstelle
Von Siebenthals erster Arbeitgeber war der Verein für Säuglingsfürsorge Obersimmental-Saanenland. Später wurde er zur Mütterberatung Obersimmental-Saanenland überführt. «Ich habe vier Präsidentinnen und einen Präsidenten erlebt», blickt von Siebenthal zurück. 2008 wurden 27 Vereine zu einer kantonalen Organisation Mütter- und Väterberatung mit Geschäftsstellensitz in Bern zusammengeführt. Etwas aussergewöhnlich war die Situation schon: «Obwohl ich die Stelle nicht gewechselt habe, hatte ich drei Arbeitgeber.» Dieser Tage verabschiedet sich Marlene von Siebenthal von den Kindern und berät vor ihrer Pensionierung die letzten Mütter und Väter. Danach widmet sie sich ihren zahlreichen Hobbys und sagt: «Ich habe das eine oder andere Projekt im Kopf …»

Zur Mütter- und Väterberatung: Das kostenlose Beratungsangebot der Mütter- und Väterberatung Kanton Bern richtet sich an Familien mit Kindern ab Geburt bis zum vollendeten fünften Lebensjahr. Mütter und Väter werden flexibel beraten. Einzeln oder in Gruppen. Face to Face an den Beratungsstandorten, zu Hause oder auf einem Spaziergang. Virtuell, in Chats mit anderen Eltern oder telefonisch. www.mvb-be.ch


ZUR PERSON

Die 65-jährige Marlene von Siebenthal ist in Saanen geboren und aufgewachsen. Nach der obligatorischen Schulzeit und den vorbereitenden Praktika bildete sie sich im Spital Elfenau in Bern zur Kinderkrankenschwester aus. Sie absolvierte später berufsbegleitend die Ausbildung zur Mütter- und Väterberaterin HF. Darauf folgten andere Weiterbildungen wie die zur diplomierten Still- und Laktationsberaterin IBCLC sowie ein CAS in Entwicklungspsychologischer Beratung. Als junge Frau zog sie das Fernweh nach Kanada, in die USA und nach Mexiko, wo sie die Sprachen lernte, Land und Leute kennenlernte und arbeitete.
Als junge Mutter nahm sie vor 37 Jahren die Stelle als Mütter- und Väterberaterin an. Sie wird dieser Tage nach der Beratung von rund 3000 Eltern pensioniert. Marlene von Siebenthal verbringt gerne Zeit in der Natur. Ihre Hobbys sind Wandern, Skifahren, Lesen und Musik. Zur klassischen Musik und Naturjutzen hat sie einen besonderen Zugang. Sie mag andere Kulturen und reist gerne. Sie hat eine erwachsene Tochter und eine Enkeltochter im Jugendalter.


NEUE BERATERINNEN

Maya Peter
Die Nachfolge von Marlene von Siebenthal übernimmt Maya Peter. Die ausgebildete Hebamme aus Zweisimmen verfügt über Berufserfahrung auf der Pränatalstation, im Gebärsaal und auf der Wochenbettstation. Sie hat zudem einen CAS-Abschluss als Stillund Laktationsberaterin. Zurzeit absolviert Maya Peter den Qualifizierungsprozess als Mütter- und Väterberaterin und steht unter anderem vor dem Ausbildungsstart zur Entwicklungspsychologischen Beratung.
 

Annelies Heinimann
Julia Gerhardt wechselt per Ende Juli an den Standort Thun. Ihre Nachfolge ab August übernimmt Annelies Heinimann. Die ausgebildete Mütterund Väterberaterin hat jahrelang in der Region Thun respektive in Baselland gearbeitet. Sie bringt vielfältige Erfahrung als Pflegefachfrau mit dem Schwerpunkt Kind, Erziehung im Frühbereich, in der Berufsbildung und als Mütter- und Väterberaterin mit.


Stimmen von zwei Generationen

Ich fühlte mich mit den Kindern bei Marlene von Siebenthal aufgehoben. Für mich war sie Kinderkrankenschwester, Ärztin, Psychiaterin und Beraterin in einem. Sie blieb immer besonnen und ruhig. Ihre Ratschläge waren auf unsere Familie abgestimmt und wenn es nötig war, verwies sie uns an den Arzt.

Esther Bütschi
Mutter von Evelyne Gygax, Monika Schmutz, Stefanie Grossen und Michael Bütschi


Marlene von Siebenthal hatte immer ein offenes Ohr, sie wusste zu jeder Zeit einen Rat und strahlte extrem viel Ruhe und Sicherheit aus. Sie vermittelte mir das Gefühl, alles richtig zu machen, mir und meinen Fähigkeiten als Mami zu vertrauen. Ihr mit Wissen und Erfahrungen gefüllter Rucksack konnte sie in jeder Situation öffnen, das passende auspacken und weitergeben.

Monika Schmutz
Mutter von Livio (8) und Lara (5)


Ich war unglaublich froh um Marlene von Siebenthal, vor allem beim Erstgeborenen waren ihre guten Tipps Gold wert. Sie hatte auf alle Fragen eine Antwort: Gesundheit, Schlafrhythmus, soll das Bett im Elternzimmer stehen …. Mir entsprach ihre bodenständige, natürliche Art. Sie hat gespürt, was man braucht, vielleicht auch, weil sie unsere Familie bereits kannte und wusste, wie wir ticken. Ich fühlte mich ernstgenommen bei Sörgeli und Sorgen.

Eveline Gygax-Bütschi
Mutter von Loris (14) und Fabio (12)


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