«Kennen Sie Fräulein Hoffnung?»

  11.06.2021 Gstaad, Kultur

Was hat dieser Titel über dem «Kulturellen Nachmittag» der Kirchgemeinde Saanen-Gsteig zu bedeuten? Was erwartet die Besucherinnen und Besucher? Vielleicht die Lesung einer älteren Geschichte, als es noch «Fräuleins» gab? Hoffnung – ein grosses Wort, vor allem in Zeiten von Krankheiten und Krisen. Hoffnung – etwas für ältere Menschen, denen die Endlichkeit des irdischen Lebens je länger, je mehr bewusst wird?

VRENI MÜLLENER
Voll von Fragen und Vorstellungen machte ich mich am Dienstagnachmittag auf den Weg. Ich hatte die Hoffnung, dass ich mich wenigstens mit dem, was musikalisch auf mich zukommen würde, nicht irrte.

Für einmal ergriff der Organist Roland Neuhaus als Erster das Wort und nahm die Zuhörer mit auf seinen eigenen Weg mit einem bekannten Bachchoral. Er las auch gleich die erste Strophe des Textes, der von Michael Frank 1652 geschrieben wurde:

«Ach wie flüchtig, ach wie nichtig, ist der Menschen Leben! Wie ein Nebel bald entstehet und auch wieder bald vergehet. So ist unser Leben, sehet!»

Und schon war das Thema des Nachmittags lanciert: Die Zeit flieht, heute – und wie war es vor 50 Jahren? Nicht alles ist nur negativ, was anders ist als früher. Die Gesetzesflut, die schnelllebige Zeit, Hektik, Zeitnot, die ständige Ablenkung der jüngeren Generation durch Handys – diese und ähnliche Antworten kamen aus dem Publikum auf die Frage von Bruno Bader: «Was ist heute anders gegenüber früher?» Anhand des Beispiels um die aktuellen politischen Diskussionen sei der Umgangston rauer geworden, die Achtsamkeit bleibe auf der Strecke, sinnierte der Pfarrer weiter.

Wurzelsünden und Tugenden
Die Liste der Todsünden, auch Wurzelsünden genannt, wurde in der katholischen Kirche zunächst als Leitbild für Mönche entworfen. Hochmut, Stolz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit bezeichnen Grundgefährdungen des Menschen, die auf die Dauer nicht zum Glück, sondern ins Unglück führen. Sie sind die Grundlagen zu einem menschlichen Verhalten, das der Gesellschaft, aber auch jedem Menschen selber, nicht dienlich sein kann.

Dem gegenüber stehen die evangelischen Tugenden, die man sich in der Antike als Frauen in allen Details vorstellte, mit einem Charakter, aber auch mit einem Gesicht und weiblichen Formen. Sie wurden als «Knigge» für Christen angesehen, als Vorbilder, die verzaubern und zur Nachahmung anspornen. Die in der Bibel erwähnten Glaube, Liebe, und Hoffnung gelten als wichtigste oder als Haupttugenden. Daraus entstehen alle anderen Eigenschaften, die das Zusammenleben untereinander angenehm machen. Auf der langen Liste der christlichen Tugenden wird neben Demut, Nächstenliebe, Sanftmut, Dankbarkeit und Gebet auch der Humor genannt. Wer die Fähigkeit hat, sich selbst nicht immer nur ernst zu nehmen, trägt auch zu einem guten Miteinander bei. Die Zusammenfassung eines Lebens, das den Nächsten, aber auch sich selber guttut, lautet kurz: Haltung zeigen.

Fräulein Hoffnung
Bruno Bader stellt sich die Hoffnung als keckes Mädchen mit zarter Silhouette vor. Mit geradem Rücken setzt sie sich ein, wenn es darauf ankommt. Wenn ihrem Gegenüber die Lebenslust fehlt, ist sie mit grosser Leidenschaft bei der Sache. Sie wirkt nicht wie überdrehte Gute-Laune-Menschen, die alle Bedenken der Welt wegreden. Ohne grosse Worte, aber mit grosser Überzeugung, vermittelt sie die göttliche Hoffnung, weil sie nicht nur das glaubt, was sie sieht.

Die kurzen Melodien, die Roland Neuhaus jeweils mit passenden Worten erklärte, halfen dabei, in den Pausen die Gedanken zu ordnen und das Gehörte zu verdauen. Dass der Organist extra für diese kulturelle Stunde die Truhenorgel hervorkramte, kam bei den Zuhörern sehr gut an. Sie gaben ihrer Dankbarkeit mit einem kräftigen Schlussapplaus Ausdruck.


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