Kann das Saanenland etwas gegen die Entvölkerung tun?

  01.06.2021 Gesellschaft

Neue Lebens- und Arbeitsformen bieten Bergregionen wie dem Obersimmental und dem Saanenland eine Chance. «Für den Erfolg sind kreative Lösungen gefragt», sagt Prof. Dr. Heike Mayer von der Universität Bern.

BLANCA BURRI
Die Zentralisierung der vergangenen Jahrzehnte hinterlässt Spuren. Inzwischen ist das Angebot in den Städten überdimensional höher als in Bergregionen: Arbeitsplätze, Ausbildungsstätten, Kultur und Freizeit, zentrale Beratungs- und Amtsstellen, um nur einige zu nennen, ziehen viele junge Menschen in die Agglomerationen. Viele Bergregionen sind von Entvölkerung betroffen.

Obersimmental-Saanenland hat verloren
Auch vor dem Obersimmental-Saanenland macht diese Entwicklung nicht halt. Der Verwaltungskreis hat zwischen 2010 und 2019 1,5 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung verloren. Boltigen ist mit einem Minus von 9 Prozent besonders stark betroffen. In Zweisimmen hingegen ist sie im selben Zeitraum um 4 Prozent angestiegen. Weil der Wohnraum im Saanenland relativ teuer ist, zogen viele Familien nach Zweisimmen.

Der Bauboom der vergangenen Jahrzehnte in der Gemeinde Saanen könnte vermuten lassen, dass ihre Wohnbevölkerung zugenommen hat. Das Gegenteil ist der Fall: Von 2010 bis 2019 nahm sie um 2 Prozent und in Gsteig um 1,3 Prozent ab. In Lauenen hingegen wuchs sie um 2,6 Prozent.

Gegentrend ist in Sicht
Viele Stadtbewohner haben die negativen Seiten des Lebens in der Stadt während der Pandemie besonders stark gespürt. Die engen Platzverhältnisse und der Mangel an natürlichem Lebensraum für die Freizeitgestaltung führte unlängst zu einem Kaufboom von Immobilien in Bergregionen. «Die Auswirkungen von Corona bieten den Berggebieten eine gewisse Chance», erklärt Prof. Dr. Heike Mayer, Leitung Unit Wirtschaftsgeografie von der Uni Bern auf Anfrage. Mit einem Wohnsitz auf dem Land möchte man der Pandemie entkommen. Heike Mayer relativiert jedoch: «Nicht alle Regionen können von der Stadtflucht profitieren.»

Grundversorgung bietet Sicherheit
Damit Städter aufs Land ziehen, braucht es die Grundversorgung: Einkaufsmöglichkeiten, öffentlicher Verkehr, ein funktionierendes Gesundheitsangebot mit Hausärzten oder ergänzend einem Geburtshaus, Schulen und Arbeitsplätze wie auch Kultur und Freizeitangebote. «Das Angebot muss nicht so dicht und vielfältig sein wie in einer Stadt, jedoch müssen sich die Neuzuzüger versorgt und sicher fühlen», sagt die Wissenschaftlerin. Die grossen Massen werden trotz der guten Vorzeichen nicht in die Bergregionen ziehen. «Natürlich gibt es Menschen, die bewusst ins Berggebiet zurückkehren, doch nicht in Scharen», betont Heike Mayer.

Was die Infrastruktur betrifft, habe das Saanenland wie auch Zweisimmen in den vergangenen Jahren gute Arbeit geleistet. Schwieriger werde es für Regionen, in denen Geschäfte und ein Teil des Grund- und Freizeitangebots geschlossen worden sind. Mayer: «In Gemeinden, wo Arbeitsplätze und jede Art von Angeboten verloren gegangen sind, ist es sehr schwierig, diese wieder anzusiedeln.»

Wie können neue Bewohner angezogen werden?
Einige Gemeinden, die von der Abwanderung besonders stark betroffen sind, wählen kreative und zum Teil teure Lösungen, um junge Familien oder Unternehmen anzuziehen. «Albinen im Wallis bietet jungen Familien Geld, wenn sie sich in der Gemeinde niederlassen», sagt Heike Mayer. Das habe recht gut geklappt, ein Gegentrend zur Entvölkerung habe eingeleitet werden können.

Multilokales Arbeiten hat Zukunft
Als vielversprechende Chance bezeichnet Heike Mayer das multilokale Arbeiten. Statt jeden Tag an den Arbeitsplatz in die Stadt zu pendeln, mache es Sinn, am Wohnort zu arbeiten. Homeoffice sei jedoch nicht jedermanns Sache, weshalb sie grosses Potenzial in Coworking Spaces sieht: «In Meiringen wurde beispielsweise ein ehemaliges Geschäft in ein Coworking Space umgenutzt, so müssen die Arbeitnehmer nicht mehr täglich pendeln.» Natürlich sei das nicht für alle Berufe geeignet. «Handwerker müssen beispielsweise in der Werkstatt oder auf der Baustelle arbeiten.» Aber Positionen in kreativen, projektorientierten Berufen und im Wissensbereich seien für multilokales Arbeiten prädestiniert.

Die Zukunft planen
Heike Mayer empfiehlt Bergregionen, eine übergeordnete Strategie zu erarbeiten, wie der Entvölkerung zu begegnen ist. Darin müsse man festhalten, wo die Region momentan stehe, wohin man wolle und wie man dahin komme. «Die Wohnbevölkerung hat in der Regel andere Bedürfnisse als Touristen, das darf man bei der Analyse nicht vergessen», sagt sie. Deshalb müsse man sich gemeinsam mit der Zielgruppe überlegen, was beispielsweise junge Menschen und Familien brauchten, damit es ihnen an einem Wohnort gefalle. Oder wie junge KMU unterstützt werden könnten, damit sie sich in der Region ansiedelten. Es gelte nicht nur die Bedürfnisse der Neuzuzüger abzuholen, sondern auch zu betrachten, welche Kompetenzen vor Ort bereits verankert seien. Sie nennt den Tourismus oder die Berglandwirtschaft. Diese Leistungsträger solle man in der Erarbeitung einer Strategie gegen die Entvölkerung unbedingt mit einbeziehen. Wenn sie als Partner an Bord seien, habe eine Strategie eine viel höhere Chance als ohne.

Willkommenskultur fängt im Kopf an
Aber es geht auch nicht ohne die bereits ansässige Bevölkerung. Heike Mayer kennt genug Beispiele, wo Neuzuzüger nach kurzer Zeit wieder weggezogen sind. «Alle Bemühungen funktionieren nur, wenn die Zuzüger eine Willkommenskultur spüren», sagt die Wissenschaftlerin. «Neuzuzüger möchten sich in der Regel integrieren und engagieren. Im Kirchgemeinderat, in der Schulpflege oder im Verein.» Personen aus einer anderen Region brächten jedoch oftmals neue Ideen mit, welche von der einheimischen Bevölkerung mit einer gewissen Offenheit angehört und umgesetzt werden sollten, rät sie.

Der aktuelle coronabedingte Trend kann Bergregionen hoffen lassen, dass junge Familien aufs Land ziehen. Die gelungene Integration ist jedoch von vielen Faktoren abhängig: von Wohnangebot, Arbeitsangebot, Infrastruktur, Freizeitmöglichkeiten, Kinderbetreuung, Ausgangs- und Kulturangebot und nicht zuletzt von der Willkommenskultur.


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