Karg und kritisch – die Spiritualität der Reformierten

  25.06.2021 Kirche

Die Johannisnacht und die Sommersonnenwende
In diesen Tagen feiern Christenmenschen die Johannisnacht. Sie soll an die Geburt Johannes des Täufers erinnern und steht in enger Verbindung mit dem Fest zur Sommersonnenwende, der kürzesten Nacht des Jahres. Beide Feierlichkeiten kennen ein reiches und zum Teil ähnliches Brauchtum (Feuer anzünden, Sammeln von Kräutern); in früheren Zeiten galten beide Tage als sogenannte Lostage und also als eine Zeit, die für das Wetter der darauffolgenden Wochen bedeutsam sein soll und damit für die Verrichtung bestimmter bäuerlicher Arbeiten, etwa den Beginn der Aussaat.

In unserer Kirchgemeinde hätten wir sowohl im letzten Jahr wie auch in diesen Tagen die Johannisnacht feiern wollen. Wegen der Pandemie müssen wir abermals ein Jahr warten. Allerdings führt der Umstand, dass in einer evangelischen Kirche die (katholische) Johannisnacht gefeiert wird, zur Frage, ob es so etwas wie eine spezifisch reformierte Spiritualität gibt. Ich meine: ja. Nachfolgend finden sich verschiedene Aspekte reformierter Frömmigkeit.

BRUNO BADER

Die Vorurteile
Die Klischees sind bekannt: Die Reformierten sind stark, wenn es um ethisches Handeln und um gesellschaftliches Engagement geht. Mit der Feierlichkeit, mit den schönen Gottesdiensten dagegen haben sie es weniger. Die sonntägliche Feier besteht im Wesentlichen aus einer Predigt, umrahmt von ein paar Liedern und Gebeten. Weder durch die Liturgie noch durch den nüchternen Kirchenraum werden die Sinne angeregt. Im reformierten Gottesdienst wird vor allem geredet, gehört und gedacht.

Gegen die bewährten Klischees sollen hier zwei Thesen vertreten werden. Erstens: Die Reformation hat eine spezifische spirituelle Tradition begründet. Zweitens: Die Reformierten haben eigene spirituelle Quellen, auf die sie stolz sein können.

Keine Statuen und Gemälde
Zur ersten These: Die Reformation vor bald 500 Jahren war eine politische und theologische, vor allem aber auch eine spirituelle Bewegung. Ihre zentrale Frage war die nach der richtigen Gottesverehrung. Die Gestaltung des Gottesdienstes und die persönliche Frömmigkeit waren deshalb das vordringliche Thema. Dafür drei Beispiele: In der ersten These zur Berner Disputation von 1528 steht, dass die Kirche «aus dem Wort Gottes geboren» ist und alles christliche Leben deshalb auf die Bibel bezogen sein muss. Weil man die Messe als «schriftwidrig» empfand, wurde sie abgeschafft. Und da man der Überzeugung war, dass die Verehrung von Bildern dem Alten und dem Neuen Testament widerspricht, wurden Statuen und Gemälde aus den Kirchenräumen entfernt.

Zwingli und Calvin
Die Reformatoren Zwingli und Calvin setzten dabei unterschiedliche Akzente. Huldrych Zwingli verbannte Orgel und Kirchengesang aus dem Gottesdienst. Und dies, obwohl er von allen Reformatoren der musikalischste war. Er schrieb dazu: «Es ist gegen alle menschliche Vernunft, zu glauben, man könne in grossem Getöse und Lärm gesammelt und andächtig sein.» «Gesammelt» und «andächtig», das sind die Schlüsselbegriffe für Zwinglis Gottesdienstverständnis. Der Zürcher wollte den Gottesdienst von allem befreien, was die Konzentration auf das Gotteswort und auf das persönliche Gebet behindern könnte.

Einen anderen Weg ging Johannes Calvin in Genf. Auch hier wurden Bilder und Orgeln aus den Kirchen entfernt. Denn auch für Calvin waren die Verkündigung und das persönliche Gebet die zentralen Elemente des Gottesdienstes. Im Unterschied zu Zwingli war er aber der Überzeugung, dass gesungene Gebete die Beziehung zu Gott beleben und vertiefen. Er liess deshalb sämtliche Psalmen nachdichten und von prominenten zeitgenössischen Komponisten vertonen. Das Ergebnis war der Genfer Psalter, der bis heute ein reicher Schatz der protestantischen Kirchenmusik ist.

Nüchternheit ist kein Defizit
Es ist also ein blosses Gerücht, die Reformierten hätten keine Spiritualität. Der Theologe Hans Jürgen Luibl schreibt zutreffend: «Die reformierte Nüchternheit ist kein Defizit an Spiritualität, sondern selber eine Form von Spiritualität.» Man darf sagen: in einer Welt, die ächzt unter ihrer Informations- und Bilderflut, vermutlich sogar eine sehr moderne Form der Spiritualität.

Man kann verschiedene Aspekte namhaft machen, die reformierte Spiritualität charakterisieren. Reformierte Spiritualität ist Spiritualität der Andacht, in ihrem Zentrum steht das persönliche Gebet als Ausdruck der Gemeinschaft mit Gott. Sie ist eine Spiritualität der Konzentration – nüchtern, sparsam und dicht, reduziert auf das Wesentliche.

Karge Symbolik
Weiter kann man sie verstehen als eine Spiritualität der Leere, der Bildlosigkeit und kargen Symbolik. Sie ist dies, weil bei den Reformierten die geistige Präsenz Gottes im Vordergrund steht. Mit all diesen Elementen ist reformierte Spiritualität eine Spiritualität der Erwartung: des leeren Raumes, der lediglich hinweist auf Gottes unverfügbare, nicht machbare Anwesenheit.

Die protestantische Vorrangstellung der Bibel wurde bereits erwähnt. Diese wird in der reformierten Spiritualität darin greifbar, dass sie wesentlich eine Spiritualität des Wortes ist. Damit ist nicht gemeint, dass bei den Reformierten vor allem geredet wird, sondern dass man darauf vertraut, dass Gott durch die Lesung und Auslegung der Bibel Glaube, Liebe und Hoffnung begründet.

Ihren zentralen Ort hat diese Auslegung im Gottesdienst, und reformierte Spiritualität ist deshalb eine Spiritualität der Gemeinschaft. Darin kommt zum Ausdruck, dass der Mensch von Gott zur Geselligkeit, zum Bund bestimmt ist. Dem widerspricht nicht, dass reformierte Spiritualität auch als Spiritualität des Individuums verstanden werden kann. Getragen vom Bewusstsein, dass es christlichen Glauben nur als persönlich angeeigneten, verantworteten und gelebten Glauben gibt, gewährt sie Raum für vielfältige Formen individueller Frömmigkeit.

Singen – denken – handeln
Ebenfalls schon erwähnt wurde, in welchem Mass zum Reformiertsein eine singende Spiritualität gehört. Nicht weniger haben die Reformierten aber immer auch Wert darauf gelegt, dass sie eine denkende Spiritualität pflegen, weil ein Christenmensch immer auch verstehen will, was er oder sie glaubt. Auch diese rationale Seite ist ein wichtiger Teil einer «ganzheitlichen» Spiritualität! Ebenso wie eine handelnde Spiritualität, in welcher Gottes- und Menschenliebe auch in sichtbarer Form zusammenkommen. Reformierter Glaube, das ist bekannt, hat immer auf Weltgestaltung gedrungen, in der Überzeugung, dass Christus der Herr der ganzen Welt ist.

Kritik an der Spätmoderne
Abschliessend zwei Aspekte, die eher selten erwähnt werden, ohne die aber reformierte Spiritualität ebenfalls nicht denkbar wäre. Zunächst, dass sie immer auch eine Spiritualität der Ehre Gottes ist. Es war vor allem Calvin, der die Ehre Gottes als die Mitte menschlichen Lebens hervorgestrichen und damit gesagt hat: Auf Gott vertrauen heisst, von sich selbst weg auf einen Andern sehen. In einer Ich-Gesellschaft, in der auch Spiritualität gerne egozentrisch gelebt wird, eine kritische, aber auch befreiende Sicht. Und: Reformierte Spiritualität ist mit all ihren Elementen stets eine Spiritualität auf dem Weg – im Bewusstsein, dass wir auf Gottes Zukunft warten, auf die alles menschliche Feiern nur ein bescheidener Hinweis sein kann. Reformierte Spiritualität bringt deshalb vor allem eines zum Ausdruck: eine grosse Hoffnung auf die umfassende Herrschaft Gottes.

AUS: «ENSEMBLE», MATTHIAS ZEINDLER


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote