Plädoyer für eine «meinungs»-farbige Gesellschaft

  04.06.2021 Kirche

Die Schweiz ist eine direkte Demokratie – das heisst, der Dialog miteinander ist unumgänglich.

Um gemeinsam diskutieren zu können, müssen Möglichkeiten zur Meinungsbildung geboten werden.

Darum sind Podiumsdiskussionen – wie sie im Kirchgemeindehaus angesetzt war – mit unterschiedlichen Meinungen unbedingt notwendig. Wer solche öffentlichen Diskussionen mit Hilfe von Bedrohungen untergräbt, bildet kein Vertrauen. Im Gegenteil: Drohungen sind häufig Ausdruck fehlender stichhaltiger Argumente.

Dabei geht es nicht um das Durchdrücken «meiner» Meinung. Diese lege ich in die Urne.

Es geht um die möglichst beste Lösung bei all den verschiedenen Aspekten und Bedürfnissen. Die sollen gehört, abgewogen und in die Entscheidungsfindung einbezogen werden.

Die Meinungsfreiheit darf nur eingeschränkt werden, wenn zu Hass oder Gewalt aufgerufen wird oder ehrverletzende Äusserungen gegen Personen und Personengruppen getätigt werden. Mit den sozialen Medien hat der Ton in politischen Diskussionen an Schärfe gewonnen. Auch Papiermedien wurden dadurch beeinflusst. Schlagzeilen werden immer reisserischer, um bei den Lesern/innen Emotionen hervorzurufen.

Die Schweiz ist eine Demokratie der Kompromisse. Das ist unsere Stärke: Kompromisse bei unterschiedlichen Meinungen zu suchen und die beste Lösung für unser ganzes Land und seine Bewohner zu finden. Wenn bei einer anderen abweichenden Meinung dem Menschen dahinter das Existenzrecht abgesprochen wird («Nimm dir einen Strick und häng dich auf!»), so hat dies nichts mehr mit Meinungsfreiheit zu tun, sondern ausschliesslich mit schlechtem Benehmen. Und dies hat in meiner Schweiz keinen Platz!

MARIANNE AEGERTER


FÜR NE FARBIGI GMEINSCHAFT
(Marianne Aegerter)

I mache mier Sorge – Sorge um d Wält. I mache mier Sorge – s geit hüfig um ds Gäld. I mache mier Sorge – um d Mänsche vor Ort. Si zangge u chriege – bruche bösi Wort. I mache mier Sorge – um ds Läbe mitenand. Si ufenand aagwise – grad hie im Saaneland. E Gsellschaft isch farbig – das sölli si o sy. Wäge Farbe isch d Gmeinschaft ja no lang nid verbi. Nei, wäg Farbe isch ds Läbe ja ersch richtig schön. Drum löht üns la rede: mitenand, mit allne Meinige u Tön.


MENSCHENRECHT MEINUNGSFREIHEIT
(Peter Klopfenstein)

Ich mache mir Sorgen, grosse Sorgen ... Die Freiheit ist in unserer direkten Demokratie eines der höchsten Güter – sie wurde von unseren Vorfahren hart und mutig erkämpft. Aber unsere Meinungsfreiheit ist in Gefahr, verloren zu gehen! Gewiss, jede und jeder sieht eine Sache von einer anderen Seite an – und gerade darum ist es wichtig, dass wir aufeinander hören, uns zuhören, auch wenn unsere Meinungen und unser Abstimmungsverhalten verschieden sind. Das gehört zur DNA unserer Demokratie, und ohne diese ist sie nicht überlebensfähig.

Ich zitiere drei Strophen aus dem Kirchenlied 517 zum Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag, das Gottes Fürsorge für ein freiheitliches, friedliches und gerechtes Zusammenleben vor Ort und weltweit erbittet – ein Lied, das sich um den Erhalt der Menschenrechte dreht:

«Beschirm uns Gott, bleib unser Hort; erhalt uns durch dein gnädig Wort; und sichre Freiheit, Fried und Recht uns und dem spätesten Geschlecht.

3) Schenk du uns, Gott, Versöhnlichkeit, dass wir, wenn Meinung uns entzweit, in andern die Geschwister sehn, im Streite noch zusammenstehn.

5) Gott, schenke Freiheit, Fried und Recht dem ganzen menschlichen Geschlecht. Dich preise unser Lobgesang vom Aufgang bis zum Niedergang.»


WIDER DIE MEINUNGSEINFALT
(Bruno Bader)

Ja, klar: Es ist manchmal anstrengend und enttäuschend. Aber ich mag Debatten und kontroverse Diskussionen. Mir gefällt es, mich mit einem Gegenüber über ein bestimmtes Thema auszutauschen und mit Argumenten zu streiten. Ich habe das von meinen Eltern gelernt; am Familientisch haben mein Vater, ein Gewerkschafter, und meine Mutter, eher liberalen Positionen verpflichtet, oft heftig debattiert. Und ihre beiden Söhne, mein Bruder und ich, mit ihnen. In der Schule dann, im Rhetorikunterricht, lernten wir, zu einem bestimmten (politischen) Thema zwei völlig unterschiedliche Kurzvorträge zu halten: Im ersten mussten wir die Argumente der einen, im zweiten jene der anderen Seite in den Vordergrund stellen und die jeweiligen Gegenargumente entkräften. Eine fantastische Übung!

Ich mag es, zu debattieren. Nicht nur, weil ich damit aufgewachsen bin, sondern auch, weil ich im Lauf meines Lebens gelernt habe: Es könnte sein, dass jemand, der in einer bestimmten Sache völlig anderer Meinung ist als ich, doch nicht ganz Unrecht hat. Im Gespräch bin ich bemüht, von ihm zu lernen; ich höre zu, überprüfe und schärfe meine Argumente. Und beginne zu ahnen: Die Welt hört nicht dort auf, wo meine Welt zu Ende ist, es gibt in jedem Fall und immer noch eine andere Sicht als die meine. Und vielleicht ist auch die nicht falsch.

Deshalb halte ich den Diskurs und die Debatte für unverzichtbar. Sie bereichern und erhalten lebendig. Meinungseinfalt dagegen ist aus meiner Sicht langweilig und öde. Zudem: In einer Demokratie können wir gar nicht anders, als Debatten zu führen, denn diese Staatsform rechnet mit der Beteiligung aller Bürgerinnen und Bürger. Wir alle gemeinsam verständigen uns jeweils neu auf das, was wir wollen oder nicht. In einem totalitären Staat dagegen definiert eine kleine Elite, was richtig ist und was falsch. Diskussionen sind in diesem Fall nicht nur nicht nötig, sondern auch unerwünscht.

Mir ist wichtig, dass in Debatten immer alle Meinungen zur Sprache kommen können, auch jene, die ich nicht teile. Denn nur so bleiben wir eine lebendige Gemeinschaft. Voltaire, der französische Philosoph und Aufklärer, soll gesagt haben: «Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äussern dürfen.»


WENN AMEISEN AUFEINANDER LOSGEHEN
(Daniel Burri)

Dass Biobauer Kilian Baumann wegen massiver Drohung nicht an unsere Veranstaltung kommen konnte, hat mich verärgert. Zudem bin ich besorgt um unsere politische Debattenkultur. Schon bei der Konzernverantwortungsinitiative wurde mit harten Bandagen gekämpft und plötzlich erschienen beängstigende Videos im Internet, welche die Befürworter diffamieren sollten. Nun werden Anhänger angezündet, welche Bauern mit «2x Nein»- Plakaten auf ihrem eigenen Grundstück aufgestellt haben. Andererseits erhalten Menschen Drohungen gegen Leib und Leben.
Was mich so erschüttert, ist, dass es bei den aktuellen Abstimmungen nicht um rechtsoder linksradikale Ansichten geht, die der Schweizer Verfassung zuwiderlaufen. Es geht um Pro und Kontra in der Landwirtschaft. Wie kann es sein, dass jemand derart bedroht wird, weil er sich mit Worten für ein Anliegen einsetzt, das strafrechtlich keinerlei Anstoss erregt?

Ein Facebook-Post schildert folgende Begebenheit: «Wenn du je hundert schwarze und rote Ameisen in ein Glas legst, passiert zunächst nichts. Aber wenn du das Glas schüttelst, gehen die beiden Arten aufeinander los. Die roten meinen, die schwarzen seien die Feinde und umgekehrt. Dabei ist der wirkliche Feind derjenige, der das Glas geschüttelt hat.» Dasselbe geschieht in unserer Gesellschaft: Männer gegen Frauen, rechts gegen links, Arm gegen Reich, Glauben gegen Wissenschaft. Bevor wir gegeneinander kämpfen, fragen wir uns besser: «Wer hat das Glas geschüttelt?»

Ich finde, egal ob dieses Ameisenphänomen naturwissenschaftlich zutrifft oder nicht, es beschreibt sehr treffend, was in unserer Gesellschaft passiert. Weltweit kann man solches täglich in den Nachrichten lesen. Aber in der Schweiz hätte ich das bis vor einigen Tagen nicht für möglich gehalten. Wir haben doch alle das Recht auf freie Meinungsäusserung! Abgesehen von den aktuellen politischen Forderungen müssen wir uns unbedingt aktiv für unsere Meinungsfreiheit in unserer einzigartigen, direkten Demokratie einsetzen. Nicht auszudenken, wenn man in Zukunft mit Todesdrohungen oder konkreten Sachschaden Abstimmungen gewinnen kann. Ich hoffe für unser Schweizer Volk, dass wir das Verständnis füreinander wieder gewinnen. Auf dass diejenigen, die das nächste Mal das Glas kräftig schütteln, keine Macht mehr haben.


ART. 16 MEINUNGS- UND INFORMATIONSFREIHEIT

1 Die Meinungs- und Informationsfreiheit ist gewährleistet.
2 Jede Person hat das Recht, ihre Meinung frei zu bilden und sie ungehindert zu äussern und zu verbreiten.
3 Jede Person hat das Recht, Informationen frei zu empfangen, aus allgemein zugänglichen Quellen zu beschaffen und zu verbreiten. (Aus der Bundesverfassung)


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