Scherenschnittmekka für einen Sommer

  06.07.2021 Saanen, Kultur, Ausstellung

In der Galerie Tarmak22 findet aktuell eine der komplettesten Ausstellungen einheimischer historischer und zeitgenössischer Scherenschnitte statt und läutet eine Ära der überregionalen Zusammenarbeit ein: «Découpage, A Labour of Love». Warum macht dies Saanen zum Scherenschnittmekka für einen Sommer und wer steckt dahinter?

MARTIN GURTNER-DUPERREX
«Ich wünsche mir, dass auch die Saaner Bevölkerung die Galerie besucht und kennenlernt, daher möchten wir in Zukunft auch traditionellere Kunst ausstellen», begründet Antonia Crespi von der Galerie Tarmak22, die sie zusammen mit ihrer Tochter Elizabeth Crespi führt, ihren Entscheid, diesen Sommer «Découpage, A Labour of Love» zu hosten. Die Galerie im Gstaad Airport, die sich sonst eher zeitgenössischer Kunst widmet, präsentiert eine der grössten und komplettesten Scherenschnittausstellungen, die über hundert historische Werke des berühmten einheimischen Dreigestirns Johann Jakob Hauswirth (1809–1871), Louis David Saugy (1871–1953) und Christian Schwizgebel (1914–1993) an einem einzigen Ort vereint. Daneben werden auch zeitgenössische Werke von Scherenschneidern wie Hans Jungen oder Anne Rosat sowie von anderen renommierten Künstlern wie Balthus (1908–2001) oder seiner Frau Setsuko Klowosska de Rola gezeigt.

Leihgaben von drei wichtigen Scherenschnittkollektionen – der Privatsammlung von Marcel Bach, Gstaad, des Musée du Pays-d’Enhaut und der Hüsy Galerie von Hans-Jürgen Glatz in Zweisimmen – machten diese Ausstellung, deren Vernissage am vergangenen Donnerstag im Beisein einer illustren Gesellschaft stattgefunden hat, möglich.

Berührt durch das tragische Schicksal Hauswirths
Elizabeth Crespi, Kunstwissenschaftlerin wie ihre Mutter und im Saanenland aufgewachsen, kennt viele Anekdoten aus Johann Jakob Hauswirths schwierigem Leben. Sein tragisches Schicksal, das vielleicht durch die vielen Gartentore illustriert wird, die auffällig oft auf seinen Scherenschnitten zu sehen sind, berührt sie. Diese kunstvoll ausgearbeiteten Tore spielten nämlich nicht so eine wichtige Rolle auf den hiesigen Bauernhöfen jener Zeit. Was bedeuten sie? Hinweise auf seine Lebensgeschichte anderswo, auf seine Identität? So viel liegt im Dunkeln. Gemäss der Junggaleristin weiss man, dass dem verarmten Köhler und Holzfäller 1847 eine Aufenthaltsbewilligung in Châteaud’Oex verwehrt wurde, dass aufgrund von verkehrt aufgeklebten Buchstaben auf seinen Collagen davon ausgegangen werden kann, dass er Analphabet war. «Seine einzige Möglichkeit, sich kreativ auszudrücken, stellte wohl der Scherenschnitt dar, nur mit Schere, Leim und simplem Papier», so Crespi. «Die Geschichte, die jedes seiner Kunstwerke erzählt, ist auch die Geschichte des Saanenlands und darf nicht vergessen gehen», mahnt sie. Auf die Frage, aus welchen Gründen es gerade hier noch eine Scherenschnittausstellung mehr brauche, antwortet Elizabeth Crespi: «Dieser Ort ist dafür perfekt, weil er mitten in einer Landschaft steht, die so viel mit dieser Kunstform zu tun hat. Die Landschaft, die Tiere, das Leben der Bauern sind die herausragenden Scherenschnittmotive. Sie illustrierten die Passion, welche die Menschen hier für ihr Land haben.» Darüber hinaus möchte sie gerade bei jüngeren Leuten das Interesse an der einheimischen Kunstgeschichte wecken, nicht nur im Saanenland oder im Pays-d’Enhaut, sondern auch bei Studentinnen und Studenten schweizweit, in Städten wie Zürich, Bern oder Basel.

Fasziniert von Schwizgebels grosser Tierliebe
«Scherenschnitte sind seit über 40 Jahren mein Hobby. Schon als 22-Jähriger habe ich meine ersten Scherenschnitte gekauft, obwohl ich es mir eigentlich nicht leisten konnte», lässt sich Marcel Bach, einer der Hauptinitiatoren der Ausstellung, schmunzelnd ins Nähkästchen seiner Sammlerpassion blicken. Er hatte damals das Glück, Christian Schwizgebel beim Schneiden zuschauen zu können. Schwizgebel habe eine grosse Liebe zu Tieren gehabt und bei sich kranke Rehe gepflegt, erinnert er sich fasziniert. «Es gibt kein Zweiter, der den Ausdruck der Tiere mit Schere und Papier so hinbrachte wie er, sei es ein Adler, Reh oder ein Fuchs!»

Seine Sammlung von einheimischen Scherenschnitten – gemäss dem Inventar seiner Tochter sind es exakt 126 – hat der Gstaader Geschäftsmann und Kulturveranstalter über die Jahre hinweg aufgebaut. «Wenn ich etwas Schönes sah, habe ich es gekauft», so Bach. Bei Auktionen habe er auch historische Stücke von Hauswirth erwerben können – aber man müsse dabei viel Geduld haben. «Ich will den Leuten eine Freude bereiten. Ich finde es schön, wenn die Werke nicht nur in der Stube hängen», begründet Marcel Bach sein Engagement für die Ausstellung. Immerhin stammt die grosse Mehrheit der präsentierten Werke an der Saaner Ausstellung aus seiner Privatsammlung.

Legendär: die Sammlung von Schloss Rougemont
Was fühlt Jean-Frédéric Henchoz, Konservator des Musée du Pays-d’Enhaut, wenn nun Saanen für einen Sommer zum Scherenschnittmekka wird – und dies ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo sich Château-d’Oex mit dem Umund Neubau des Musuems als nationales Scherenschnittzentrum positionieren will? «Ich bin für den kulturellen Austausch und extrem glücklich, unsere Leihgaben hier so schön in Szene gesetzt zu sehen», sagt er ganz ohne Neid.

«Wir stellen nicht unsere ganze Sammlung, die wir uns prioritär für unser Museum vorbehalten, sondern nur die Scherenschnittkollektion von Schloss Rougemont zur Verfügung, vor allem Werke von Louis David Saugy, Hauswirth und Anne Rosat», erklärt Henchoz. Diese legendäre historische Privatsammlung, entstanden in den 1930er- und 1940er-Jahren, wurde 1973 beim Brand des Schlosses in extremis durch einen beherzten Antiquitätenhändler, der dabei sein Leben aufs Spiel setzte, gerettet. Schliesslich wurde sie 2014 unter denkwürdigen Umständen dem Musée du Pays-d’Enhaut als Legat vermacht. Die momentane Schliessung des Museums habe die Entscheidung zur Teilnahme an der Saaner Ausstellung natürlich beeinflusst und erleichtert, so Jean-Frédéric Henchoz.

Einläuten einer überregionalen Zusammenarbeit
«Man darf den Marktetingwert solch eines attraktiven Events für das Museum im Pays-d’Enhaut nicht unterschätzen», ist der Museumsleiter überzeugt, denn er animiere Leute dazu, in Zukunft auch unsere Scherenschnittsammlung zu besuchen. Diese beeindruckende, vor hundert Jahren entstandene Kollektion – als ein Hausarzt den kunsthistorischen Wert von Hauswirths Schnitten in den Bauernstuben seiner Patienten erkannte – wird in Zukunft noch an Attraktivität gewinnen, wenn sie dereinst mit der in der Hüsy Galerie gelagerten Sammlung des Vereins Scherenschnitt Schweiz im neuen Schweizerischen Scherenschnittzentrum in Château-d’Oex zusammengelegt wird. Die Neueröffnung des Museums ist mit Vorbehalt für April 2022 geplant. Vielleicht stehen die Original-Schopferglocken, die den Eingangsbereich des Tarmak22 schmücken, gerade deshalb als Symbol für das Einläuten einer überregionalen Zusammenarbeit in dieser einheimischen Volkskunst, die für Einheimische, Kunstinteressierte und den Tourismus einen echten Mehrwert bietet.

Öffnungszeiten der Ausstellung «Découpage, A Labor of Love», Tarmak22 in Saanen: Mittwoch bis Sonntag von 11 bis 17 Uhr oder nach Vereinbarung, Tel. 033 748 31 31, info@tarmak22, Eintritt frei


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