«Wär cha das je vergässe …?»

  30.07.2021 Region

… Wär cha die Gwalt ermässe
We Sturm dä Bärg umwitteret
Der Wildbach ds Tal erschütteret
De wärde d Mänsche still und chli
Ergib di dri: Es geit verbi.

Dies ist eine Strophe aus dem «Türpachliedli» vom ehemaligen Turbachschulmeister Ernst Frautschi.

Lange vorher, im Jahr 1765, schrieb Pfarrer Alb. Gerber, Pfarrer in Saanen, Folgendes: «Der Zugang zum Turpach ist fast unprakticabel. Man muss fast eine Stunde durch eine erschreckliche Wüstenei stets bergan reisen, neben dem fürchterlichen Gewässer, welches das Tal durchströmt und sich mit schrecklichem Gebrüll ergiesset.»

Die meisten Leute hierzulande wissen, wie unbändig sich der Turpachbach benehmen kann. Bestätigt wird dies durch die Überlieferung, der Name Turpach habe mit dem keltischen «Turpat» zu tun, was so viel heisse wie der «Wilde» oder auch der «Ungestüme».

Wenn die Leserschaft im «Anzeiger von Saanen» vom 29. Juni 2021 den sehr informativen Bericht von Daniela Romang-Bieler liest, kann sie kaum glauben, dass das Wasser auf dem Foto «aus des Turbachs dunklem Tann» sich in ein reissendes Ungetüm verwandeln kann. Daniela Romang schreibt über die kürzliche Sanierung des Baches in ihrer Überschrift «Komme was wolle». Tönt aus diesen Worten eine gewisse Besorgnis? Könnte nicht wiederum ein gigantisches Wildwasser losbrechen, das alles Gewesene in den Schatten stellt? Ich weiss es nicht.

Denken wir an die Gegenwart: Unbeherrschbares Wasser kann überall sein, gewiss. Aber das grosse Projekt «Turpachbach» ist gelungen und nach neuesten Erkenntnissen durchgeführt worden. Daran zweifelt niemand.

Naturphänomene
Zu Beginn meiner Zeit als Lehrer im Turbach galt mein Interesse vor allem den Erscheinungen des Wetters. Ich habe über sie gestaunt und gelacht. Zum Beispiel über das, was die Leute über das Wetter meinten, so auch der Theaterdichter Nestroy, der einmal sagte: «Das ist doch kein Klima, das ist ein Scheisswetter!» Vielleicht haben Sie auch schon über den «verschifften» oder «verseichten» Sommer gewettert oder sich über die verheerende Hitzewelle in Kanada oder die Hochwasserschäden in ganz Europa entsetzt. Wie sanft war dagegen das Rieseln, Glucksen und Gurgeln des gemässigten Turbachs. Es war die Musik meiner kleinen Spaziergänge an dieses friedliche Wasser, war wie ein Lied, das mich erfreute und beruhigte.

Wie anders konnten die Stimmen des Wassers und des Himmels sein, wenn ich ab und zu nachts vor das Schulhaus trat. Die Luft manchmal warm, fast zähflüssig. Sie begann sich allmählich zu bewegen, stossweise zu verstärken, zu ziehen und zu zerren. Dann setzte ein dumpfes Pfeifen und Heulen ein. Gespannte Stille. Und plötzlich waren neue Laute da, in den Ästen begann ein Sausen, Bewegliches fing an zu klopfen und zu knarren. Von der Brunnenröhre flog das Wasser quer über den Trog. Eine Blechtafel schepperte, irgendwo schlug eine Tür wütend zu.

Und dann: taghell ringsum, blendend. Dann ein betäubender Donnerschlag. Grosse Regentropfen schlugen auf mein Gesicht, ich floh unter das Vordach. Wieder ein flammender Blitz, unmittelbar danach ein Dröhnen, Grollen und Hallen durch die Dunkelheit.

Das Gewitter raste über mich hinweg wie ein gewaltiger apokalyptischer Helikopter. Nur zögernd verzog es sich talauswärts. Jetzt hörte ich den Bach. Das Poltern der Steine und der Stämme, dazu das Orgeln des Wassers: Alles, was sich dem «Wilden» entgegenstellte, wurde mitgerissen. Lange noch blieb ich draussen stehen, lauschte in die Gewitternacht.

Landschaften entstehen
Immerzu sind Naturkräfte am Werk, sie formen und verändern die Erdoberfläche: Wasser und Wind, Frost und Hitze, Gletscher, Lawinen, Erdrutsche und Murgänge. Aber auch Erdbeben, Vulkane und riesige Gesteinsverschiebungen verändern das Gesicht der Erde.

Auch die ersten Bewohner des Tales, so vermute ich, haben sich gegen die Kräfte des Wassers gewehrt. Sie wollten behüten, oft sicher vergeblich, was ihnen das Wasser geraubt und gefressen hatte. Es waren Verstärkungen der Ufer und Schwellen im Flussbett, um das Gefälle des Baches zu brechen. Und oft können die Menschen auch heute nur noch seufzen: «Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand!»

Wassergrössen
Ein packender Bericht mit dem Titel «Wassergrössen» ist uns erhalten geblieben. Verfasst hat ihn Ruth von Grünigen-Frautschi (1926–2014). Ruth von Grünigen war Mitautorin des Büchleins «Saanetütsch» und Ehefrau von Albert von Grünigen, Posthalter im Turbach.

Im Jahr 2005 schrieb Ruth (im Volksmund liebevoll Ruthli genannt) aus der Erinnerung: «Das Schlimmste war der 20. Juli 1948. Ruben (Ruthlis Bruder) hatte im Inneren Turbach Post vertragen und kam eben wieder zurück mit der unguten Nachricht, dass der Bach unbändig daherkomme. Er sei einer ersten Welle vorgefahren, d.h. er habe sie überholt. Damit schwang er sich wieder aufs Velo, um Vati (Christian Frautschi) zu benachrichtigen, der mit einem Fuder Zuckersäcke von Gstaad unterwegs war. Just als die ersten Wellen beim Konsum über die Ufer traten, kam Vati mit dem Fuder heim. Er ahnte den Ernst der Stunde, spannte Joggi sofort aus und führte ihn ins Weidli. Unterdessen kam das Wasser immer näher und höher, wir fühlten uns wirklich bedroht. Hinten bei der Fangsbrücke legten sich schwimmende Tannen quer, verhinderten dem Wasser den Durchgang unter der Brücke und der Bach ‹frass› sich rechts ein neues Bachbett, genau auf das Konsumhaus zu. Das war nun höchste Alarmstufe. Mueti (Emilia Frautschi, Frau des Christian) holte in aller Eile Postbücher und Kasse, ebenfalls die Ladenkasse, und gab sie irgendjemandem in Obhut. Nach ‹zweimal ein Arfel Chleider› wagten wir uns nicht mehr ins Haus. Traurig schlichen wir ‹übers Reinteli uehi›. Von Wehrens Laube aus sahen wir, wie ein Gegenstand nach dem anderen von den Fluten weggetragen wurde, zuletzt auch der Ladentisch samt Schubladen. Die Remise stürzte ein, der Garten war schon längst weg.» Am Schluss dieses Berichtes schrieb Ruthli den schönen Satz: «Das ganze Tal kam uns zu Hilfe.»

Ruthli hat auch die Wassergrössen von 1936, 1940 und 1944 beschrieben. Jedes Mal hinterliess der «Wilde» beträchtliche Schäden. Gott sei Dank sei 1974 im Pfaffenberg eine starke Talsperre errichtet worden, die das Wasser im Zaum gehalten habe. Ruthli berichtet ferner, dass im Jahr 1940 Gottfried von Siebenthal sein Leben verlor, als er über den Steg von der Sonnseite heim in den Scheidbach wollte. Er wurde erst in Rossinière gefunden. «Da wärde d Mänsche still u chli.»

Und heute? 2021 bis …?
20’000 Blitze seien im Juni eingeschlagen. 250’000, ebenfalls in der Schweiz, bei den gewaltigen Gewittern von Wolke zu Wolke gesprungen. Von den Hochwasserzerstörungen in der Schweiz und in ganz Europa haben wir viel gelesen, gehört und gesehen. In Tschechien wütete am 24. Juni ein 24 Kilometer langer und bis zu 700 Meter breiter Tornado. Es blieb blanke Verwüstung zurück, sechs Menschen starben. Wie viele es in ganz Europa sein werden, wissen wir noch nicht.

Ich weiss nicht mit Sicherheit, was solche extreme Wetterlagen bedeuten oder was sie ankünden. Es gibt namhafte Forscher, die noch vor grösserem Unheil warnen. Soll man auf sie hören oder begegnen wir ihnen mit Unwillen, Drohungen und Hass?

Im Postauto
Mein Erlebnis mit dem «Ungestümen» erzählte ich Mani Raaflaub. Er meinte, das müsse Anfang der Siebzigerjahre gewesen sein. Ich weiss es nicht genau, vielleicht habe ich es verdrängt. Sicher ist: Albert von Grünigen, ehemaliger langjähriger Post- und Autohalter und Mitautor der Schrift «Saanetütsch», fragte, ob ich bereit wäre, während der langen Sommerferien den Postautokurs Turbach–Gstaad zu übernehmen und ab und zu einen Ausflug mit Gästen zu unternehmen. Er habe immer Mühe, Vertretungen für diese Arbeit zu finden.

Ich sagte zu, musste allerdings die Taxiprüfung sowie auch bei der Post eine Prüfungsfahrt ablegen. So zog ich die Uniform an, setzte den Hut auf und legte die Fahrten gewissenhaft und nicht ohne Stolz zurück.

Dann kam jener denkwürdige Tag. Schon am Vormittag stach die Sonne heiss. An der Wystätt zogen schwarze Wolken auf und um das Giferhorn türmte sich ein Gewitter. Der Himmel in Bewegung mit Donner und Windstössen. Ich fuhr los, die Strasse leer, nach den Abwärtskurven fuhr ich sehr langsam. Bei der Scheidbachbrücke stand Alfred Raaflaub, Verantwortlicher für das Turbach-Schwellenwesen. Er hiess mich anhalten. Ich kurbelte die Scheibe runter. «Pass auf!», rief Alfred mir zu. Jetzt vorsichtig um die Kurve, noch eine Biegung – mein Atem stockte. Vor mir schoss eine gelbe Schlange Schlammwasser über die Strasse, weiter abwärts war sie bereits in Stücke gerissen. Kein Durchkommen. Ich schaute rückwärts, Gott sei Dank, die Strasse war noch frei. Im Rückwärtsgang schlingerte ich rückwärts bis zur grossen Kehre. Meine Schläfen hämmerten, die Hände voll Schweiss.

Schlussgedanken
Die Mitverantwortlichen für das Turpachbachprojekt, Klaus Mösching, Beat Brunner und Daniel Bütschi, fassen ihre Prinzipien vorbildlich zusammen: «Kein Wasserbauprojekt ist gleich wie das andere. Jedes hat seine unverwechselbare Eigenart. Das Projekt soll der Situation und dem Bestehenden angepasst werden. Ein Wildwasser muss genug Platz bekommen, damit seine Kraft nicht zerstörerisch wird, sonst sind alle Vorsorgemassnahmen umsonst. Wo geholzt wird, soll auch wieder sinnvoll aufgeforstet werden.»

Lernen?
Was kann ein alter Lehrer noch lernen? Der hat seinen Kopf doch nur voll mit verstaubtem Schulwissen. Trotzdem hier mein individueller «Lernzuwachs», den ich beim Schreiben gewonnen habe: Ein Projekt soll mich interessieren, begeistern und mit Liebe erfüllen. Definitive Entscheidungen während der Projektentwicklung sollten vorher diskutiert und von möglichst vielen Betroffenen unterstützt werden. Immer transparent bleiben! Rückschläge können Konsens und Wachstum bringen.

SIGI AMSTUTZ

Dank an Peter von Grünigen und Emanuel Raaflaub für Hinweise, Erklärungen, schriftliche Berichte und Fotos.


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