«Wir arbeiten in Ländern mit Krieg, Ausbeutung, Korruption»

  06.08.2021 Interview

Einst war er Tourismusdirektor von Gstaad, heute leitet Martin Bachofner die Geschicke der Non-Profit-Organisation Stiftung Kinderdorf Pestalozzi in Trogen AR. Im Interview erklärt er, dass sein sportliches Jahresziel die Rennradfahrt von seinem Wohnort Lyss zum Arbeitsort in Trogen ist und die Stiftung in den Tourismus einsteigt.

BLANCA BURRI

Martin Bachofner, vor bald vier Jahren haben Sie das Saanenland verlassen. Vermissen Sie es?
Ich bin sehr gerne im Saanenland gewesen und ich halte mich nach wie vor gerne hier auf. Im Winter komme ich zum Langlaufen und im Sommer fürs Radfahren. Die Berglandschaft und die Saisonalität in den Bergen vermisse ich. Ebenso die Nähe zur Bevölkerung auch in der Funktion als Tourismusdirektor, die privilegiert, wenn auch nicht immer ganz einfach war. Es gab angenehme und unangenehme Themen zu bearbeiten. Es war schön, in dieser Destination eine mitprägende Figur zu sein. Meine Freundschaften im Saanenland pflege ich natürlich weiterhin.

Sie sind grosser Fahrradfan. Sind Sie bereits von Lyss nach Trogen gefahren?
Nein, noch nicht. Das ist mein persönliches Jahresziel. Je nach Route immerhin 220 Kilometer und mehr als 2000 Höhenmeter.

Was haben Sie im Saanenland fürs Leben gelernt?
(Lange Pause.) Vom beruflichen Blickwinkel gesehen, habe ich viel über die Komplexität von Interessen verschiedener Anspruchsgruppen gelernt. Es ging ums Zuhören, Managen, Inputgeben und Koordinieren. Das politische Element in dieser Funktion hat mir ein grosses Bewusstsein für den Politbetrieb gegeben. Es war gut, dies mitzuprägen, bedeutete aber auch, aushalten zu können. Und …

Und …?
… wir wissen, dass die Region privilegiert ist. Die Bevölkerung hat sich vieles selbst erarbeitet – durch Fleiss und Disziplin. Es ist eine grosse Kunst, dabei eine gewisse Demut, Dankbarkeit und Bodenhaftung zu behalten. Dass das vielen Bewohnerinnen und Bewohnern gelingt, hat für mich Vorbildcharakter.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Viele Landwirte stehen frühmorgens auf und versorgen die Tiere im Stall. Später begleiten sie als Skilehrer die wohlhabendsten Menschen der Welt. Manchmal werden sie zu exklusiven Reisen eingeladen. Trotzdem bleiben die Personen sich selbst – bleiben am Boden.

Sie sind von Haus aus Jurist, waren aber immer in Branchen mit Kontakt zu vielen Menschen tätig. Was sprach gegen eine Karriere als Anwalt?
Auch ein Anwalt hat mit verschiedenen Menschen zu tun und braucht ein gutes Gespür für sie. Ich habe schnell bemerkt, dass ich, bliebe ich in der Rechtsprechung, ein Feld-, Wald- und Wiesenjurist würde, weil ich mich zuwenig für ein spezielles Gebiet interessierte.

Jetzt arbeiten Sie für die Stiftung Kinderdorf Pestalozzi in Trogen in Appenzell Ausserrhoden.
Das gute Jobangebot in Trogen kam genau zur rechten Zeit. Mich reizt die einerseits sinnhafte und andererseits unternehmerische Aufgabe in der Stiftung. Es ist herausfordernd, eine Non-Profit-Organisation zu führen, weil das Geld nicht vom Himmel fällt und die Mittelbeschaffung ein Knochenjob ist. Wir finanzieren 90 Prozent unseres Budgets, sprich 18 Millionen Franken, durch Spenden. Der Wettbewerb in der Schweiz ist gross.

Was sind weitere Herausforderungen?
Wir haben in Trogen unsere Homebase mit rund 25 Liegenschaften. Hier setzen wir uns mit Themen wie Auslastung, Frequenzen, Angeboten, Ausrichtung und Instandhaltung auseinander. Sie sehen, das sind ähnliche Themen wie im Tourismus. Das heisst, wir möchten neben den beiden Standbeinen – das Engagement für die Schweiz und international – ein drittes aufbauen, natürlich immer auf den Stiftungszweck begründet.

Nämlich?
Wir möchten das Kinderdorf mit Individualreisenden im Tages- und Übernachtungstourismus beleben, eine neue Einnahmequelle schaffen und dadurch unsere Kernbotschaften auf einem zusätzlichen Weg besser in die Schweiz und in die Welt tragen. Da spielt auch das Eventmanagement eine Rolle. In Trogen befinden wir uns an einem wunderschönen Ort mit gleichzeitigem Blick auf den Alpstein und den Bodensee. Als Eventlocation sind wir geradezu prädestiniert. Dementsprechend haben wir auch einige geniale Ideen für Events, welche zu uns passen.

Tourismus im Appenzell, funktioniert das?
Appenzell ist perfekter Ausgangspunkt für diverse reizvolle touristische Angebote im Alpstein, auf dem Säntis in Sankt Gallen und in der gesamten Bodenseeregion.

Was macht die Stiftung Kinderdorf Pestalozzi eigentlich?
Wir setzen uns national und international für Kinder und Jugendliche ein – vor allem nach den Nachhaltigkeitsentwicklungszielen der Vereinten Nationen. Unsere Kernthemen sind dabei die Kinderrechte und insbesondere das Recht auf Bildung

Das Kinderdorf in Trogen wurde als Heim für Kriegswaisen gegründet.
Das ist richtig und deshalb feiern wir dieses Jahr auch unseren 75-jährigen Geburtstag. Noch heute prägt diese Zeit das kollektive Gedächtnis von vielen, die uns kennen. Deshalb bekommen wir Sachspenden wie Comics oder Spielsachen (schmunzelt). Das Angebot hat sich inzwischen geändert. Es leben keine Kinder dauerhaft mehr bei uns. Diese Fehlannahme möchten wir korrigieren.

Was ist das Kinderdorf Pestalozzi heute?
Der Standort in Trogen ist ein Ort für Schulklassen aus der Schweiz und aus Europa, genauer gesagt vornehmlich aus Osteuropa. Wir bieten Projektwochen, Ferienlager und europäische und nationale Kinder- und Jugendkonferenzen an. Zudem haben wir zwei fahrende Radiostudios für Projektwochen in Schulen.

Was ist am interkulturellen Austauschwochen speziell?

Die Kinder aus Osteuropa treffen auf eine Schulklasse aus der Schweiz. Die gleichaltrigen Schüler lernen sich kennen und erfahren, wie es ist, an einem unbekannten Ort zu leben. Sie diskutieren konstruktiv über wichtige Themen wie Demokratie, Interkulturalität oder Diskriminierung.

Mit welchem Ziel?
Mit dem Ziel, einen wichtigen Beitrag für eine gerechtere Gesellschaft im Sinne der sozialen Nachhaltigkeit zu leisten. Alle Themen, die wir Kindern mitgeben können, sind für ihre zukünftige Entwicklung sehr wertvoll und sollen unsere Gesellschaft hoffentlich positiv prägen. Dieser Austausch mit anderen Kulturkreisen und Mentalitäten ist genial.

Ein dritter grosser Bereich sind die Lagerwochen.
Die Grundidee ist, ein tolles Ferienerlebnis für Kinder anzubieten, die sich andernfalls beispielsweise keine Ferien leisten können oder deren Eltern wegen der Arbeit keine Zeit haben. Für einen bescheidenen Beitrag können Ferien mit Freizeitcharakter gebucht werden.

Mit dem Kinderdorf-Radiosender gehen die Kinder on air.
Das Kinderradio trägt den Namen «Power Up». Mit den mobilen Radiostudios fahren wir zu Schulhäusern in der ganzen Deutschschweiz. Das Angebot ist sehr beliebt und erfreut sich deshalb einer sehr hohen Nachfrage. Die Übertragung der Radiosendungen findet online, aber auch über Lautsprecher im Schulhof statt. Die Schulkinder jeder Stufe lernen viel in Sachen Medienkompetenz und steigern dabei gleichzeitig ihr Selbstbewusstsein. Manchmal kostet es sehr viel Überwindung, ins Mikrofon zu sprechen, wenn man weiss, wer da alles zuhört.

Sie engagieren sich auch international?
Wir erreichen im Ausland rund 200’000 Kinder und Jugendliche, das sind viel mehr als in der Schweiz, wo wir gut 2000 Kinder und Jugendliche erreichen. Aufgrund der demografischen Situation in vielen von unseren Einsatzländern ist es logisch, dass wir in unseren Projekten im Ausland mehr Kinder erreichen. Strategisch haben sowohl unsere Auslandarbeit wie auch die Arbeit in der Schweiz ihre absolute Berechtigung. Der Standort in Trogen ist sehr wichtig für uns als Organisation: Wir sind die einzige Schweizer NGO in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit mit einer solchen Standortgeschichte in der Schweiz. Das möchten wir in Zukunft noch cleverer einsetzen.

Also in der Schweiz erreichen Sie mit demselben Geld wie im Ausland gerade mal ein Prozent der Kinder und Jugendlichen.
Das ist richtig, unser Budget ist etwa hälftig geteilt. Deshalb stellen wir uns die Frage, wie hoch die Spendegeldeffizienz ist. Soll der Schweizer Franken hier vor Ort eingesetzt werden oder in Ostafrika? Natürlich machen genau diese Fragen meine Arbeit spannend. Und selbstverständlich gilt es jederzeit, den Willen des Spenders, der Spenderin zu achten.

Sie haben Projekte in Ostafrika, Südostasien, Südosteuropa und Zentralamerika. Welches ist das Hauptanliegen?
Es geht darum, Kinder aus unterprivilegierten Gesellschaftsschichten in die Schule zu bringen und dort zu halten – und zwar in der Regelklasse. Es geht um Integration von Minderheiten beispielsweise von Roma in Südosteuropa. Es geht darum, für eine gute Schulbildung von Binnenflüchtlingen oder Nomadenkindern zu sorgen. In Laos unterstützen wir Projekte in der Umweltsensibilisierung. Dort haben wir sogar ein Lehrmittel mitgestaltet. In Südamerika liegt der Schwerpunkt darauf, dass die Kinder in der Schule bleiben, statt in Gangs abzurutschen. Ebenfalls fangen wir dort Familien auf, die in den USA abgeschoben worden sind und kümmern uns um Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen sowie um die Weiterbildung der Lehrpersonen …

Erlauben Sie mir eine kritische Zwischenfrage: Das ganze tönt ein wenig nach einem Giesskannenprinzip.
Wie schon bereits vorher erwähnt können gewisse Parallelen zum Tourismus gezogen werden (lacht). Im Ernst, unsere Kernkompetenz im Ausland ist das Erkennen von Bedürfnissen von unterprivilegierten Kindern, welche allesamt aus irgendeinem Grund gar keine oder eine schlechte Schulbildung erhalten. Vor Ort arbeiten wir dann mit spezialisierten Partnerorganisation zusammen. Diese garantieren in der Umsetzung das bestmögliche Ergebnis. Diese Herangehensweise wird vom DEZA sehr geschätzt – und wir dürfen deshalb auf eine anteilsmässige Unterstützung der Programme zählen. Aber einen Punkt haben Sie erkannt. Unsere «Giesskanne» dürfte künftig grössere Löcher haben. Das heisst, dass wir vielleicht noch effizienter werden, wenn wir unsere Kernkompetenzen in grössere Projekte investieren. Sodass die Wirkung automatisch noch besser wird. Dies gilt für alle Bereiche in unserer Organisation, also auch für die Schweiz.

War die Spendeneffizienz bisher ungenügend?
Wir sind Zewo-zertifiziert und nehmen unsere Verantwortung gegenüber dem Spender wahr. Wer uns also mit Spenden beschenkt, kann davon ausgehen, dass sein Geld gut investiert ist. Trotzdem können wir uns verbessern – das geht fast immer.

Wie sieht das tägliche Business im Ausland aus?
Die internationale Entwicklungszusammenarbeit birgt viele Herausforderungen. Sie findet in Ländern statt, wo nicht unbedingt Milch und Honig fliesst. Wir arbeiten in Ländern mit Krieg, Ausbeutung, Korruption etc. Das ist leider Realität und unterstreicht gleichzeitig die Wichtigkeit unserer Tätigkeit für unsere Gesellschaft. Die Pandemie macht die Sache nicht einfacher. Normalerweise erreichen wir die Kinder und Jugendlichen über die Schulen, diese sind teilweise seit Monaten geschlossen. Deshalb mussten wir unsere Strategien anpassen, damit wir sie trotzdem unterstützen können. Die Zahlen dazu sind erschreckend: Eines von sechs Kindern ist weltweit seit einem Jahr ohne Schulbildung.

Was hat sich bei den Kinderrechten verändert?
Die Sensibilisierung hat in den vergangenen zehn Jahren glücklicherweise stark zugenommen – in Firmen wie in Schulen und Familien. Davon können wir profitieren. Aber trotzdem haben wir immer Handlungsbedarf auch in der Schweiz.

Welche Kinderrechte in der Schweiz werden nicht eingehalten?
Oh, da kenne ich einige, leider: Das Wohl des Kindes, die häusliche Gewalt oder die Einheit der Familie, weil sich Eltern, die sich trennen, um die Kinder kämpfen oder weil ein Elternteil wegzieht, manchmal in ein anderes Land. Weiter wird der Schutz der Privatsphäre oft nicht eingehalten, weil Eltern übervorsichtig sind. Nicht zu vergessen der Schutz von Minderheiten und sexuellen Übergriffen.

Welche grosse Herausforderung gibt es sonst noch?
Eine betriebswirtschaftliche. Weil das Stiftungskapital angewachsen war und etwas minimiert werden musste, hat die Stiftung in den vergangenen zehn Jahre eine Vorwärtsstrategie verfolgt. Das hat zu mehr und zu innovativen Projekten geführt. Inzwischen ist das Kapital auf eine gesunde Basis geschrumpft, weshalb wir etwas Gegensteuer geben müssen. Das möchten wir durch Sparmassnahmen, optimiertes Fundraising, Kooperationen und neue Geschäftsfelder erreichen. Leider ist dies aber auch nicht ohne Einsparungen bei den Mitarbeitern möglich.

Was macht Ihren Job so interessant?
Die Diversität ist reizvoll, weil ich mich mit internationalen Themen und auch mit der Entwicklungszusammenarbeit auseinandersetze, wie mit dem Mikrokosmos in Trogen. Dort geht es um Unterhalt, Küche, Gästebetreuung, Besucherzentrum, Spezialistinnen für Buchhaltung und Verwaltung und natürlich um Pädagoginnen und Pädagogen. Es prallen unterschiedliche Weltbilder aufeinander – fast wie in einer Tourismusdestination (lacht).

Sie feiern dieses Jahr das 75-Jahr-Jubiläum.
Aufgrund der Pandemie haben wir auf grössere Festivitäten verzichtet. Zudem muss man sich auch nicht immer selber feiern. Stattdessen haben wir zu diesem Anlass 75 Schulen mit einem Kinderrechts-Workshop beschenkt. Sich über Kinderrechte und über das interkulturelle Zusammenleben auszutauschen, ist absolut sinnvoll investierte Zeit. Es muss nämlich nicht immer mehr Frühenglisch und Förderunterricht sein. Um es mit den Worten unseres Namensgebers zu sagen, geht es darum, mit Kopf, Hand und Herz zu denken und handeln. Mein persönliches Ziel ist es, dass jedes Schweizer Kind in Berührung mit der Stiftung kommt. Es geht nicht darum, dass sie alle nach Trogen kommen, vielmehr wollen wir zu ihnen gehen …


STIFTUNG KINDERDORF PESTALOZZI

Die Vision der Stiftung ist eine Welt, in der Kinder frei und friedlich lernen und lachen. In der sich alle mit Respekt und Wertschätzung begegnen. Ziel ist es, Konflikte konstruktiv zu lösen. Kinder sollen sich entfalten können und stark sein. Sie sollen Chancen und Rechte haben und wahrnehmen können. Die Wurzeln der Stiftung liegen beim Gründer Walter Robert Corti mit den Grundwerten Respekt, Gerechtigkeit, Toleranz und Offenheit.
Quelle: Stiftung Kinderdorf Pestalozzi


ZUR PERSON

Martin Bachofner wohnt in Lyss bei Bern. Der 48-Jährige ist in Bern aufgewachsen, hat eine KV-Lehre und die Matura auf dem zweiten Bildungsweg absolviert. Danach hat er Wirtschaft sowie Jura studiert und hatte Anstellungen bei Medienunternehmen, im Tourismus (leitende Positionen) und nun bei einer Nichtregierungsorganisation, der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi in Trogen. Martin Bachofner und seine Partnerin haben eine gemeinsame siebenjährige Tochter. In der Freizeit ist Martin Bachofner auf dem Rennrad anzutreffen, zum Beispiel am Bergkönig in Gstaad.


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