30 Jahre Städtepartnerschaft mit aktuellen Themen

  03.08.2021 Saanen

Die Städtepartnerschaft von Saanen und Darmstadt ist am Puls der Zeit – es gibt auch Herausforderungen.

BLANCA BURRI
Bernd Schäfer war von 1987 bis 2013 Leiter des Büros für Städtepartnerschaften und Internationale Beziehungen und danach Stellvertretender Leiter des Amtes für Interkulturelles und Internationales in Darmstadt. Obwohl er 2019 pensioniert wurde, lebt er die Beziehung aktiv als Geschäftsführer des Original Freundeskreises der Partnerstädte Darmstadts und privat. Er war am diesjährigen Tennisturnier als Helfer im Einsatz. Eine besondere Beziehung pflegt er zu Markus Iseli, dem hiesigen Beauftragten für Städtepartnerschaften. Zum 30-Jahr-Jubiläum geben Bernd Schäfer und Markus Iseli Einblick in die Zusammenarbeit.

Aus dem Vollen schöpfen
Die Partnerschaft wird auf verschiedenen Ebenen gelebt. Der offizielle Austausch beispielsweise finde bei regelmässigen Besuchen wie am Europawochenende in Darmstadt statt. Dort werden Themen wie Tourismus, Migration, Fachkräftemangel und Bürgerbeteiligung diskutiert. «Bei der Bürgerbeteiligung können wir als Schweizer mit der direkten Demokratie aus dem Vollen schöpfen», sagt Markus Iseli, «Wir haben von den anderen Teilnehmenden auf unsere Ausführungen interessante Rückmeldungen erhalten, beispielsweise von der Ukraine, der Türkei oder Lettland.»

Das Saanenland ist Teil Europas
Natürlich spüre die Schweizer Delegation, dass sie kein EU-Mitglied ist, weil beispielsweise Abläufe in der EU anders funktionieren. Aber die Themen und Herausforderungen seien in allen Ländern dieselben. «Wir dürfen nicht als Europäische Union denken, sondern als Bürger des Kontinents. Wir müssen in Herausforderungen wie Klima und Pandemie zusammenarbeiten – auch die Schweiz», fordert Bernd Schäfer, «heute mehr, denn je!»

Voneinander lernen
Markus Iseli sagt, dass die Diskussion mit den 15 Partnerstädten von Darmstadt immer extrem spannend sei. «Im Austausch merkt man, dass die einen Länder von den anderen noch etwas abzukupfern hätten und auch wir Schweizer könnten von unseren grossen Nachbarn durchaus etwas lernen.» Auch wenn es nur die Einsicht sei, dass die Schweiz ein sehr kleiner Teil von Europa ist – auch partnerschaftlich gesehen.

Am Puls der Zeit
Im Rahmen der Städtepartnerschaft spricht Bernd Schäfer die Bewegung «Pulse of Europe» an, eine überparteiliche und unabhängige Bürgerinitiative, die 2016 in Frankfurt am Main gegründet wurde. Bürger setzen sich für Themen ein, die den ganzen Kontinent betreffen. «Wir möchten die Menschen in den Denkprozess über die Zukunft Europas einbinden», so Schäfer, der Teil der Bewegung ist. Markus Iseli unterstreicht: «Wir müssen global denken und lokal handeln.» Er erklärt es an einem Beispiel: «Pulse of Europe» habe im Frühling dazu aufgefordert, Regenbogenfahnen an öffentlichen Gebäuden anzubringen. Der Saaner Gemeindepräsident habe diese Aktion mit folgender Begründung nicht bewilligt: «Wir stehen mit unseren Bürgern in stetem Austausch, deshalb ist es nicht unsere Art, politische Statements abzugeben.» Trotzdem habe der Aufruf in der Gemeinde etwas bewirkt. Die Jugendarbeit sei aufgefordert worden, LGBTQ-Themen mit den Jugendlichen zu besprechen.

Bezüglich Meinungsbildung macht Markus Iseli einen Exkurs zur Migration: «Die Abstimmungsergebnisse führen uns vor Augen, dass wir im Saanenland in einem ausländischkritischen Umfeld leben.» Das erstaune ihn immer wieder, denn das Saanenland lebe von ausländischen Staatsangehörigen und im Arbeitsmarkt sei man ebenfalls auf Personen mit Migrationshintergrund angewiesen. Bernd Schäfer hakt ein: «Ich habe am Tennisturnier einige Menschen aus Deutschland kennengelernt, die hier wohnen und arbeiten». Er wiederholt seinen Appell: «Egal, woher wir kommen, wir müssen zusammenarbeiten. Zum Beispiel, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.»

Wie bringt man Partnerschaft zum Fliegen?
«Die grösste Herausforderung ist, Menschen zu motivieren und zu begeistern, die Städtepartnerschaft zu leben», sagt Bernd Schäfer. Gelebt wird sie beispielsweise von den Gesangsvereinen «Chörli Heimatglüt», Grund, und «Eintracht 1870 Arheilgen», Darmstadt. Seit 1995 besuchen sich die Vereine in unregelmässigen Abständen. Der Verein Orplid aus Darmstadt ist ebenfalls ein gutes Beispiel. Er unternimmt Reisen ins Saanenland, wo ihnen Markus Iseli und Fachleute aus der Region einen Blick hinter die Kulissen bieten. Die Viertagesreisen finden jeweils zu Themen wie Wasserkraft, Holz, Landwirtschaft, Tourismus etc. statt (weitere regelmässige Aktivitäten siehe Grafik).

«Ich sehe absolut Potenzial für einen wachsenden Austausch der Bevölkerung, beispielsweise mit weiteren Vereinen», so Markus Iseli und verspricht, sich in Gesprächen weiterhin dafür einzusetzen.

Mehr oder weniger erfolgreich
Einige Ideen, die beiden Orte näher aneinanderzuführen, sind zum Teil umgesetzt worden, andere wurden nach einer gewissen Zeit wieder eingestellt oder kamen nicht zum Fliegen. Der Jugendaustausch habe beispielsweise früher besser funktioniert, weiss Markus Iseli. Andere potenzielle Berührungspunkte sind der Darmstädter Jugendfotowettbewerb und der Street Style Cup (Coiffeur- und Kosmetikwettbewerb). Im Saanenland sind es das Survival Camp und Schwenten auf der Alp.

Individuelle Anfragen für Praktika und Arbeitseinsätze vor allem in der Hotellerie gebe es immer wieder. Bernd Schäfer: «Ich habe eben wieder einen Kontakt zu einer einheimischen jungen Frau geknüpft, die eine Ausbildung im Gastgewerbe macht und in diesem Rahmen ein Praktikum in Darmstadt machen möchte.»

Werbespot für die Wissenschaftsstadt Darmstadt
Darmstadt liegt mitten im Rhein-Main-Neckar-Gebiet, nur eine halbe Stunde von Frankfurt am Main, Heidelberg, Mainz und Wiesbaden als Eingangstor zum wunderschönen Geo-Naturpark Bergstrasse-Odenwald entfernt. Die ehemalige Bundeslandhauptstadt bildet mit der Mathildenhöhe das deutsche Zentrum des Jugendstils und wurde am 24. Juli 2021 durch Entscheidung des Welterbekomitees der Kulturorganisation der Vereinten Nationen UNESCO-Welterbe. Sie ist eine Universitätsstadt und bietet dem Europäischen Raumflugkontrollzentrum (ESA/ESOC) sowie der Europäische Organisation für die Nutzung meteorologischer Satelliten (EUMETSAT) Gastrecht. International und überregional gibt es anerkannte Kulturinstitute der Literatur, der bildenden Kunst, der Musik und das Staatstheater.


LESEREISEN WAREN URSPRUNG

Angefangen haben die freundschaftlichen Beziehungen bereits 1971. Von 1971 bis 1990 organisierte die Tageszeitung «Darmstädter Echo» insgesamt 19 Leserreisen nach Saanen und Gstaad. So war es 1976 schon zu einer touristischen Partnerschaft zwischen Darmstadt und Saanen/Gstaad gekommen. Seit dem Jahr 1987 lädt der Oberbürgermeister der Stadt Darmstadt regelmässig eine offizielle Delegation aus Saanen zu den traditionellen Darmstädter Grenzgängen ein. Nachdem Walter von Siebenthal – der damals Präsident des Gemeinderats von Saanen war – vorgeschlagen hatte, die freundschaftlichen Beziehungen weiter aufzubauen und zu vertiefen, wurde der Partnerschaftsvertrag unterzeichnet. «Im Rahmen gegenseitiger, freundschaftlicher Beziehungen unter den Völkern Europas und im Bestreben, das Zusammenleben der Menschen in Frieden und Freiheit zu fördern, verpflichten sich die Stadt Darmstadt und die Gemeinde Saanen, die in den letzten Jahren geschaffenen Verbindungen durch eine offizielle Partnerschaft zu fördern und weiter auszubauen», heisst es in der unterzeichneten Urkunde vom 8. September 1991.

Während in der Schweiz Städtepartnerschaften nicht so verbreitet sind, haben sie in Deutschland einen hohen Stellenwert. Das hängt natürlich mit der Geschichte zusammen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es in Deutschland zur Gründung einer Reihe von Städtepartnerschaften. Ziel war vor allen Dingen die Aussöhnung der Völker Europas. Nach Köln und Berlin ist die hessische Stadt Darmstadt die deutsche Stadt mit den meisten Partnergemeinden. Insgesamt sind es 16. Die Gemeinde Saanen zählt seit nunmehr 30 Jahren dazu. Vielfältige Begegnungen und Austausche haben in dieser Zeit wertvolle Beiträge für Freundschaft und Zusammenarbeit in Europa geleistet.

ARCHIV AVS


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