Die Saanengeiss – so viel mehr als «die Kuh des armen Mannes»

  27.08.2021 Saanenland

Neuerdings dient sie dem GST unter dem Namen Saani als Maskottchen für Spielplätze und Erlebniswege: die Saanengeiss. Dass sie gwundrig und frech ist und ein schneeweisses Kleid trägt, schleckt keine Geiss weg – auch nicht, dass sie auf der ganzen Welt bekannt und verbreitet ist. Weniger bekannt ist, woher das «Saanengibi» stammt und wie es herangezüchtet wurde, aus welchem Grund es hier früher eine sehr wichtige Rolle spielte, warum es im Saanenland gar nicht so häufig zu sehen ist und welches sein Entwicklungspotenzial ist.

MARTIN GURTNER-DUPERREX
Haben Sie sich auch schon gefragt, wie aus einer umtriebigen, vielleicht farbigen oder gar langhaarigen und gehörnten Bergziege die schneeweisse, kurzhaarige, umgängliche und meist hornlose Saanengeiss wurde? Über diesen spannenden «Verwandlungsprozess» gibt Hugo Raaflaub, ehemaliger Geschäftsführer des Schweizerischen Ziegenzuchtverbands und Co-Autor des Buchs «Schweizer Ziegen» (Hrsg. Urs Weiss, Winterthur 2004), sehr spannende Einblicke.

Für den ausgewiesenen Ziegenkenner ist klar: Der Grundstein für die ausserordentliche Zuchtstory der leistungsfähigen, anpassungsfähigen und genügsamen Saanengeiss ist die Tatsache, dass sie früher «die Kuh des armen Mannes» war. Sie spielte eine wichtige Rolle in der Ernährung von Hirten, Wildheuern und vor allem von bedürftigen Familien, die selber weder Land noch Vieh besassen und als Taglöhner arbeiteten. Genau dieser Umstand machte sie zur «erfolgreichsten Ziegenrasse der ganzen Welt», schreibt Hugo Raaflaub. Wie war das nur möglich?

Die «Verwandlung»
«Die Saanenziegen wurden so erfolgreich, weil sie nicht wie andere Rassen als freilaufende Herdentiere gehalten wurden, sondern zu zweit oder zu dritt als Heim- oder Hirtengeissen, um täglich zweimal gemolken zu werden», erzählt Hugo Raaflaub im Gespräch. Um ihre Rolle als Ernährerin erfüllen zu können, musste die Geiss natürlich zuallererst eine grosse Milchleistung erbringen, was ihr mit viel Geduld und Geschick hauptsächlich durch Selektion angezüchtet wurde – genauso wie andere Eigenschaften auch. «Dabei hat die 1890 gegründete Ziegenzuchtgenossenschaft Saanen, eine der ältesten der Schweiz, eine enorm wichtige Rolle gespielt», so Raaflaub.

Im Buch erklärt er, dass die Saanengeiss aus den damaligen meist hellen, einfarbigen Landschlägen reinweiss herausgezüchtet worden sei, damit sie schon von Weitem – sie hatte das Recht auf freien Weidegang – erkannt und zum Melken geholt werden konnte. Damit die Praxis des freien Weidens nicht zu grossen Waldschäden führte, da die Ziege mit Vorliebe Büsche und Jungtriebe von Bäumen frisst, wurden schon früh von den Gemeinden begrenzte Weiderechte und -gebiete zur allgemeinen Benutzung eingeräumt.

Die Zucht auf kurze Haare führt der Autor auf praktische Gründe wie die Sauberhaltung zurück, da die Tiere oft sehr eng mit den Menschen zusammenhausten. Die Hornlosigkeit wurde langsam, über Jahrzehnte hinweg angezüchtet. Dass ungehörnte Tiere mehr Milchleistung erbringen, untereinander friedlicher sind, weniger Platz brauchen und der Umgang mit ihnen gefahrloser ist – gerade auch deshalb, weil sich die Kinder um sie kümmern mussten –, seien ebenfalls bekannte Tatsachen. «Reinerbig hornlose Tiere sind aber unfruchtbar», warnt er, «aus dieser Erkenntnis heraus sind heute auch gehörnte Saanenziegen und -böcke zur Zucht anerkannt.»

Das «Saanengibi» ist laut der Statistik des Schweizerischen Ziegenzuchtverbands (SZZV) mit bis zu 3,7 Kilo Milch pro Melktag eine der ergiebigsten Rassen weltweit und nach der Gämsfarbigen Gebirgsziege die weitverbreitetste Ziege der Schweiz – was natürlich auch anderen Zuchtnationen nicht verborgen blieb.

Die Saanengeiss geht auf Reisen
Nach der Gründung der Ziegenzuchtgenossenschaft Saanen um 1890, die zum Zweck der Reinzucht der Saanenziege gegründet wurde, so Hugo Raaflaub im Buch «Schweizer Ziegen», hätten reinrassige prämierte Zuchtböcke bald Höchstpreise erzielt. Vorher waren die unzähligen, eng miteinander verwandten Landschläge nicht sauber voneinander getrennt.

Durch landwirtschaftliche Ausstellungen und Kleinviehschauen im Inund Ausland bekannt geworden, sei die Nachfrage nicht nur im eigentlichen Zuchtgebiet, sondern in der ganzen Schweiz und darüber hinaus gestiegen, schreibt Raaflaub. «Der Bau der Eisenbahn im Simmental und bis ins Saanenland am Anfang des letzten Jahrhunderts hat beim Transport und Export sicherlich eine wichtige Rolle gespielt», kommentiert der Autor. Auch die aktive Vermittlung durch den Bund sei förderlich gewesen. Gemäss seinen Angaben wurden schon 1898 drei Böcke und zwölf Saanenziegen in die südafrikanische Kapprovinz exportiert, 1899 waren es 184 Ziegen nach Pommern, um 1900 eindrückliche 700 nach Elsass-Lothringen ... «Ohne Zweifel brachten Schweizer Auswanderer die Geissen auch nach Nordamerika mit», ergänzt er. Neben den Deutschen – sie tauften sie in den 1920er-Jahren in Weisse Deutsche Edelziege um – waren es vor allem passionierte britische Züchter, die scharf auf die ergiebige Saanengeiss waren.

Im Buch «Schweizer Ziegen» wird erwähnt, dass die importierte Saanenziege ab 1922 ins britische Herdebuch aufgenommen wurde. Laut derselben Quelle waren auch Einkreuzungen mit lokalen Rassen sehr erfolgreich, so die British Saanen, die grösser ist als das Original und mit über vier Kilo pro Melktag noch eine höhere Milchleistung an den Tag legt.

Ein Klick auf Wikipedia zeigt, dass es bedeutende Saanenziegenzuchten und -farmen mit zum Teil mehreren Tausend Tieren ebenfalls in Ländern wie Frankreich, Holland, Russland, Kanada, China und Australien gibt.

Bald Tausende Saanenziegen im Saanenland?
Was zahlenmässig das Entwicklungsauspotenzial für das Saanenland angeht, so stellt Ursula Ruchti, ihres Zeichens Präsidentin der Ziegenzuchtgenossenschaft Gstaad und selber stolze Besitzerin von drei Melkgeissen und drei Jungtieren, gleich Folgendes klar: «Die Bauern sind auf jeden Fall nicht bereit, ihre Kühe für eine grössere Anzahl Saanengeissen aufzugeben!»

Sie nimmt damit Stellung zur Projektidee von Michel Orloff, im Saanenland in grösserem Stil Saanenziegen zu züchten (siehe Kasten CDICS). Der Absatz von Ziegenmilchprodukten im Saanenland sei zwar erfolgreich – schon jetzt verarbeitet die Molkerei Schönried laut eigenen Angaben als einzige gewerbliche Abnehmerin in der Region 100’000 Kilo Ziegenmilch pro Jahr –, aber das Fleisch von mehreren Tausend Tieren könnte auf dem lokalen Markt unmöglich abgesetzt werden, meint Ursula Ruchti. «Unser Prinzip ist, dass alle Milch, die wir hier produzieren, auch hier verarbeitet wird.» Der Export von überschüssigem Ziegenfleisch zum Beispiel nach Asien oder Übersee sei nicht im Sinn der einheimischen Bauern, da eine solche Praxis nicht dem Tierwohl entspreche und sie das Produkt vor allem regional stärken wollten.

«Eine grosse Anzahl Ziegen zu halten, war hier nie Tradition», bestätigt Ruchti. Auch heute zähle man bestimmt nicht mehr als 300 bis 350 reinrassige Saanengeissen im Saanenland. «Viele züchten sie als Hobby oder als Ergänzung zum Bauernbetrieb», erklärt sie. Mit ein Grund für die geringe Zahl sei sicherlich, dass sie gerade wegen ihrer Leistungsfähigkeit zur «Memme» wurde und in der Haltung aufwendiger, heikler und anspruchsvoller ist als andere Rassen – «sie ist fast wie ein Haustier, das die Nähe des Menschen sucht».

Übrigens ist die Anzahl der Ziegen in der Schweiz seit den 1950er-Jahren allgemein stark zurückgegangen. Gemäss der Statistik des SZZV haben sich die Herdebuch-Saanengeissen allein in den letzten zehn Jahren von 8008 auf 5845 Stück vermindert. 1886 gab es in der Schweiz – dies zeigt der Landwirtschaftliche Informationsdienst (LID) auf – rund 416’000 Ziegen, heute sind es gerade noch 80’000. Die Industrialisierung und der steigende Lebensstandard der Bevölkerung dürften dafür hauptverantwortlich sein.

«Hier geboren, hier verarbeitet, hier gegessen»
Ursula Ruchti findet aber auch positive Aspekte in Orloffs Idee, die Saanengeiss in Zukunft wirtschaftlich wieder mehr zu fördern –– und auch touristisch in der Region zu vermarkten. Sie ist überzeugt, dass im Rahmen des Agrotourismus eine kleinere Showfarm mit Zucht- und Ausbildungsbetrieb, wo die Leute die Geissen sehen, erleben und streicheln können, sicherlich für Familien attraktiv wäre. Denn gerade im Sommer sind die Tiere im Tal kaum live zu erleben, weil sie auf dem Berg sind. «Leider gibt es für solch einen Betrieb noch keinen Standort», bedauert sie, «ideal wäre, wenn dazu in einem Lädeli ausschliesslich Geissenprodukte angeboten würden.» Ruchti hebt auch hervor, dass die Saani-Erlebniswege ursprünglich auf eine Initiative ihrer Familie und der Dorforganisation Gstaad zurückgeht: «Es freut mich sehr, dass das Maskottchen Saani die Ziege einer breiteren Öffentlichkeit auf spielerische und humorvolle Weise bekannt macht.»

Als Wermutstropfen empfindet die Genossenschaftspräsidentin hingegen das zum Teil mangelnde Interesse der lokalen Hotellerie, das ganze Jahr hindurch Saanenziegen-Fleischprodukte anzubieten, um die Gäste auf den Geschmack zu bringen. Oder wenn Züchter ihre Tiere zur Schlachtung nach Thun fahren, weil je nach Saison hier der Absatz fehlt. Erfreut stellt sie andererseits fest, dass die lokale Metzgerei neben dem beliebten Gitzifleisch an Ostern vermehrt ganzjährlich auch ältere Tiere verwertet, indem zum Beispiel Kräutersalami, Trockenwürste und Trockenfleisch feilgeboten werden. Dies passt zum Credo der Ziegenzuchgenossenschaft «Hier geboren, hier verarbeitet, hier gegessen» – was dem Wunsch von immer zahlreicheren Kundeninnen und Kunden entspricht, lok aler zu konsumieren, gesünder zu essen und zu wissen, wie die Tiere behandelt werden.

Dieser Umstand stimmt optimistisch und man kann hoffen, dass unser «Saanengibi» noch viele schöne und erfolgreiche Tage vor sich hat und weiter erfolgreich Geschichte schreibt – hier im Saanenland oder in weiter Ferne.


DIE SCHWEIZ ALS «WIEGE DER ZIEGE»

Sie wurde vor gut 10’000 Jahren im Vorderen Orient nach dem Hund und gleichzeitig mit dem Schaf als eines der ersten wirtschaftlichen Nutztiere domestiziert: die Hausziege. Gemäss einschlägiger Quellen stammt sie von der wild lebenden Bezoarziege ab, die in den Berggebieten zwischen der Türkei und dem Iran zu Hause und heute vom Aussterben bedroht ist. Bereits zur Zeit der Pfahlbauer um ca. 5000 v.Chr. gelangte die zur Familie der Hornträger gehörende Geiss in die Region der heutigen Schweiz. Die heutigen Rassen sind teilweise Nachkommen dieser Tiere, sie dürften unseren Gebirgsziegen ähnlich gewesen sein. Später führten auch die Römer Ziegen ein. Da die Schweizer Alpen schon früh bewirtschaftet wurden, die bergige Landschaft der mit dem Steinbock verwandten Ziege besonders behagte und sie wegen ihrer Kletterfähigkeit auch dort gehalten werden konnte, wo Rinder nicht mehr hinkommen, gedieh sie hierzulande prächtig. Belegt ist, dass bereits ab dem 11. Jahrhundert Geisskäse produziert wurde. Und weil die Älpler geschickte, ehrgeizige Züchter waren, wurde die Schweizer Ziegenzucht durch sorgsame Auswahl und Selektion besonders erfolgreich. Dies führte dazu, dass die Schweiz zur «Wiege der Ziege» wurde. Heute stammen weltweit viele Spitzen-Ziegenrassen von Schweizer Rassen wie der Saanengeiss ab.

MARTIN GURTNER-DUPERREX

Quellen: «Jubiläumsschrift des Schweizerischen Ziegenzuchtverbands 1906–2006» und Wikipedia


RASSENSTANDARDS UND MILCHLEISTUNG DER SAANENZIEGE

Widerristhöhe: männlich 90cm, weiblich 80cm
Minimalgewicht: männlich 85kg, weiblich 60kg
Haut: fein, weiss
Horn: gehörnt oder hornlos, enthornte Tiere akzeptiert
Haare: kurz, glatt anliegend
Farbe: weiss, einzelne schwarze Haare auf Euter, Nase und Ohren geduldet
Zötteli am Hals und Bart: nicht auschlaggebend (nicht bei allen präsent)
Milchleistung: 830kg pro Laktationsperiode (220 Melktage pro Jahr) oder
3,7kg pro Tag

Abweichungen haben Punkteabzügen zur Folge:
• unreines Weiss (Rot- oder Braunschimmer)
• einer oder mehrere Farbflecken (egal wie klein, Abzug auch bei ganz
wenigen schwarzen Haaren)
• langes Haar Quelle: Website SZZV


DIE CDICS: EIN VISIONÄRES KONZEPT?

Der russischstämmige, bei Vevey aufgewachsenen Michel Orloff beklagt in einem visionären Konzept vom Januar 2020 zuhanden der Saaner Bauern und der Ziegenzuchtgenossenschaften, dass die Saanenziege in Selektionszentren und Grossfarmen im Ausland keinen Bezug mehr zu deren Ursprungsort Saanen habe. Während es weltweit Hunderttausende von Saanenziegen gebe, sei der Bestand im Saanenland auf ein paar Hundert geschrumpft und zu wenig sichtbar. Er weist wiederholt darauf hin, dass die Saaner Züchter das geistige Eigentumsrecht an der Rasse einfordern müssten. Orloff, der in der Entwicklung von landwirtschaftlichen Grossbetrieben international tätig ist und in Russland eine Farm besitzt, schlägt die Gründung einer Genossenschaft zur internationalen Entwicklung der Saanenziege (CDICS, Coopérative de développement international de la chèvre de Saanen) vor, die zum Ziel hat, die Geiss wieder in grösserer Anzahl im Saanenland anzusiedeln, ihren Namen rechtlich schützen zu lassen und ein genetisches Zuchtbuch einzuführen, das international bindend wäre. Vorgesehen wären eine moderne Showfarm, wo Ziegenzucht in grösserem Stil betrieben würde, eine Schule für Ziegenmilchverarbeitung für Labelprodukte, Partnerschaften mit spezialisierten Hochschulen und Unternehmen, ein Fonds für Investitionen und Entwicklung sowie Ökotourismus. «Wichtig wäre die Zusammenarbeit mit den lokalen Züchtern, den Zuchtgenossenschaften und der Gemeinde Saanen, denn nur so kann ein solches Projekt zum Erfolg führen», betont Orloff anlässlich eines Gesprächs.

MARTIN GURTNER-DUPERREX

 


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