Die Schutzpatronin von Tapacari

  10.08.2021 Leserbeitrag

Die heutige Bolivienspalte wird die vorletzte in der Reihe zum Thema «Brauchtum und Traditionen» sein. Auch wenn ich mich wiederhole: Nur wenn man die enorme Bedeutung der Bräuche und Festtage für den Bolivianer versteht, und zwar für jeden Einzelnen – unabhängig von Status und Bildung –, kann man ermessen, wie sehr das gesellschaftliche Leben wie auch der Arbeitsmarkt in Bolivien von ihnen geprägt werden.

Einer der wichtigsten Feiertage im bolivianischen Kalenderjahr ist das Patronatsfest, das in jedem Ort oder jeder Kirchengemeinde begangen wird. Die Schutzpatronin oder der Schutzpatron ist entweder eine Heilige oder ein Heiliger, die an diesem Tag ganz besonders verehrt wird, oder aber es ist, je nach Gemeinde, Jesus selbst oder Maria, derer in besonderer Form gedacht wird. Heute soll es um die Schutzpatronin von Tapacari gehen.

Joel war erst kürzlich zu uns zu Tres Soles gekommen und es gab leider nur sehr wenige Dokumente über ihn. Guisela hatte wie üblich ihre Fühler ausgestreckt und überall herumgefragt, um etwas über seine Eltern ausfindig zu machen, als wir eines Tages einen Hinweis erhielten, dass sich seine Mutter in Tapacari aufhalte, eine äusserst verlassene und ärmliche Gegend. Zwar liegt das Dorf Tapacari nur zwei bis drei Fahrstunden von Quillacollo entfernt, dennoch war es eine denkwürdige Reise, zu der Guisela und ich uns am 27. September, an dem jedes Jahr das Fest der Schutzpatronin, der «Schmerzensreichen Jungfrau», gefeiert wird, auf die Suche nach Joels Mutter machten.

An diesem Tag scheinen die Legenden, die sich um die «Schmerzensreiche Jungfrau» ranken, lebendig zu werden. Selbst regelmässige Besucher, die an diesem Fest jedes Jahr teilnehmen, hört man immer wieder sagen, dass sie, sobald sie die Kirche betreten, sich um viele Jahrzehnte zurückversetzt fühlen und das Gefühl sie überkomme, dass sie jeden Augenblick ein Raunen aus dem Dunkel des Kircheninneren zu hören glauben.

Die Fahrt geht durch ein breites Tal, das fast völlig mit einem ausgetrockneten Flussbett aus Steinen und Geröll ausgefüllt ist. Nur ganz am Rand, gegen die kahlen Berghänge hin, die auf beiden Seiten steil aufsteigen, sieht man Reste von fruchtbaren Feldern und im Schatten einiger Palmen die Ruinen eines versunkenen Herrschaftshauses. Normalerweise quält sich nur ab und zu ein Lastwagen ächzend und quietschend über die Schotterstrasse, die mitten durch das Flussbett führt und nur in der Trockenzeit befahrbar ist, aber jedes Jahr am 27. September wälzt sich seit den frühen Morgenstunden eine endlose Kolonne von Bussen, Personenwagen und sogar geländegängigen Luxuswagen mit Gästen aus aller Welt in einer riesigen Staubwolke talaufwärts. Es ist der Tag, an dem in Tacapari das Fest der Virgen Dolorosa, der «Jungfrau des Schmerzes», gefeiert wird.

Am Rand des Flussbettes stehen Kinder, die mit den typischen, bunt bestickten Bauerntrachten und weissen Hüten bekleidet sind. Sie betteln mit ausgestreckten, ineinander gelegten Händen, als ob sie das Abendmahl in der Kirche empfingen. Die Leute im Bus werfen ihnen Brotbrocken und Bananen aus den offenen Fenstern zu, so wie man Hunden Knochen zuwirft.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erscheinen auf einem Felszacken hoch über dem breiten Tal und dem ausgetrockneten Flussbett ein paar Häuschen aus Lehmziegeln und darüber endlich die Kuppel einer Kirche mit rosaroter Fassade. Eine lange Schlange von Pilgern wälzt sich mit uns durch die staubigen, ungepflasterten Gassen hinauf zur Kirche. Indigene in bunten Kleidern drängen sich tanzend hinter der Kapelle, die schrille Blechmusik spielt, begleitet von mächtigen Trommeln. Blumen werden gestreut. Feuerwerkskörper zerplatzen am tiefblauen Himmel wie verpuffende kleine Wölkchen. Auf den Schultern von Dutzenden von Männern schaukelt die «Schmerzensreiche Jungfrau» hin und her, streng, ganz in Schwarz gehüllt. Sie schwankt durch die weit geöffneten Flügel des Tores hindurch in das Dunkel des Kircheninneren, gefüllt bis zum letzten Platz mit Gläubigen.

Über dem Tor an der rosaroten Fassade steht in eine Steintafel gemeisselt die Jahreszahl 1921. Der ahnungslose Fremde mag sich nichts dabei denken, höchstens, dass die Kirche in diesem Jahr erbaut worden sein muss. Aber die Einheimischen wissen, auch wenn es inzwischen keine Zeitzeugen mehr gibt, dass im Jahr 1921 sehr viel mehr passiert ist, als dass nur eine Kirche erbaut worden wäre. Das Jahr 1921 war das Schicksalsjahr von Tapacari. Die Menschen erzählen, dass damals eine arme, alte Frau in das blühende Städtchen im Talgrund kam. Tapacari war reich und die Felder fruchtbar. Es wurde Mais, Getreide, Kartoffeln und Obst angebaut. Fette Kühe grasten auf den Weiden. Das Mütterchen, das mit knochigen Fingern gegen die Türen klopfte, war so alt, dass es eigentlich nur noch aus Falten und Runzeln bestand. «Ein Almosen, um Gottes willen, ein Almosen», murmelte es, wenn die Tür aufging.

«Scher dich dorthin, wo du hergekommen bist», fertigte sie eine dicke, rotwangige Frau ab und ein Mann in frischgebügeltem, weissem Hemd und Weste fuhr sie an: «Belästige uns nicht! Du bist nur zu faul, um zu arbeiten!» Andere machten die Tür erst gar nicht auf oder warfen sie ihr vor der Nase zu. Ein paar Jungen rannten sogar hinter ihr her und warfen ihr Steine nach. Es war unerklärlich, warum die Menschen plötzlich so hartherzig waren, an diesem Ort, wo buchstäblich Milch und Honig flossen und die Gastfreundschaft normalerweise heilig war.

«Morgen werdet ihr ebenso arm sein wie ich», drohte das Mütterchen mit geballter Faust und verliess das Städtchen. Niemand hat sie je wiedergesehen. Und niemandem war aufgefallen, dass sie genauso schwarz gekleidet war wie die «Schmerzensreiche Jungfrau», die in der Kirche als Schutzpatronin verehrt wurde, dass sie ihr sehr ähnlich gesehen hätte – mit der schmalen Figur, dem strengen Gesichtsausdruck –, wenn sie nicht so viele Runzeln gehabt hätte.

In derselben Nacht entlud sich über dem Tal ein ungewöhnlich starkes Gewitter, wie man es noch nie erlebt hatte. Blitze fuhren wie Schwerter herab, gewaltiger Donner liess die Erde erzittern und sintflutartiger Regen stürzte vom Himmel, als wollte er die ganze Welt ertränken. Die Berghänge lösten sich und begruben Tapacari unter sich.

Am Morgen darauf war das Städtchen von einer meterdicken Geröllund Schlammschicht bedeckt. Nur die Kirchturmspitze war im aufsteigenden Nebel und Dampf noch zu sehen. Die wenigen Überlebenden der Katastrophe des Jahres 1921 zogen weg, aber zuvor gruben und suchten sie noch wochenlang, in Trauer versunken, nach der «Schmerzensreichen Jungfrau». Sie sollte nach Cochabamba gebracht werden.

Als sie sie endlich aus den Geröllmassen befreit hatten, liess sie sich nicht bewegen, sie war wie angewurzelt. Erst als man entschied, auf dem benachbarten Felsen für sie eine Kapelle zu bauen, war es möglich, sie an den neuen Standort zu schaffen. Seither pilgern die Überlebenden des Unglücks und ihre heutigen Nachkommen, die weltweit zerstreut leben, an jedem 27. September nach Tapacari und feiern zu Ehren der «Schmerzensreichen Jungfrau» ein grosses Fest, für das sehr viel Geld ausgegeben wird. Man spricht von Tausenden von Dollars. Natürlich kann man sich fragen, ob es nicht besser wäre, der indigenen Bevölkerung, die sich mittlerweile in dieser Umgebung angesiedelt hat, zu helfen, anstatt zu feiern, denn Tapacari zählt heute laut Statistik zu den ärmsten Landstrichen Boliviens. Es sind «Verhältnisse wie in Afrika», so drückte es ein Bewohner aus. Wenn man einen der Besucher, der extra zum Fest angereist ist, darauf anspricht, bekommt man zur Antwort: «Die sind nur zu faul, um zu arbeiten!»

Manchmal scheint es, dass der Mensch nicht lernen will, erst recht nicht, wenn die Geschichte der bettelnden «Schmerzensreichen Jungfrau» nur eine Legende ist.

Am nächsten Tag, als die Besucher alle wieder verschwunden waren, machten Guisela und ich uns auf die Suche nach Joels Mutter. Im Vergleich zum Vortag herrschte eine geisterhafte Stille. Wir klapperten jedes Häuschen und jede Hütte ab, die auf dem Hügel weit verstreut zu finden waren. Niemand wollte etwas wissen, geschweige denn Joels Mutter kennen.

Nicht anders muss es dem alten Mütterchen in der Legende ergangen sein und so traten wir unverrichteter Dinge, entmutigt und erschöpft, die Rückfahrt an, erleichtert, diese düstere Gegend verlassen zu können.

Joel blieb denn auch nicht lange bei uns. Das Jugendamt teilte uns kurz darauf mit, dass ein Verwandter des Jungen aufgetaucht sei.

Wir fragten uns natürlich, ob unser Besuch in Tapacari der Auslöser hierfür war? Gab es etwa einen Zusammenhang?

Wir haben jedenfalls nie wieder etwas von ihm gehört.

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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