Ein Besuch im Wallfahrtsort Urcupiña

  07.09.2021 Leserbeitrag

Das Thema «Brauchtum und Tradition in Bolivien» wird mit der heutigen Bolivienspalte und dem Besuch des Wallfahrtsortes Urcupiña abgeschlossen. Der Ort liegt auf einem lang gezogenen Hügel im Süden der Stadt Quillacollo, also nicht weit entfernt von unserem Projekt.

Immer wenn Besucher aus dem Ausland kommen und die Zeit es zulässt, besuche ich mit meinen Gästen diesen Ort, in dem die Jungfrau von Urcupiña verehrt wird.

Am Eingang, neben den hohen weissen, gotisch zugespitzten Torbögen, stehen ein paar Stände, an denen Miniaturen von nur einigen Zentimetern Grösse verkauft werden: Häuser, Autos, Lastwagen, Werkzeuge, Koffer, Geldscheine, Lebensmittel und sogar Bierkästen. An anderer Stelle habe ich bereits über diesen Miniaturmarkt berichtet. Man ersteht einen Gegenstand und hofft, dass der damit verbundene Wunsch in Erfüllung geht. Ich erinnere mich noch an einen Touristen, der einen kleinen Bierkasten kaufte. «Damit mir das Bier nie ausgeht», lachte er.

Mit meinen Besuchern steige ich die Treppe zur Kapelle hinauf, wo in einer Nische die Jungfrau von Urcupiña steht. Das Original befindet sich übrigens gut geschützt in der Kathedrale von Quillacollo.

Gleich hinter der Kapelle erzählen grosse, weisse Steinfiguren, wie es zur Gründung des Wallfahrtsortes kam, denn dieser Ort ist genau wie alle anderen Wallfahrtsorte durch eine Legendenbildung entstanden.

Vor langer Zeit, als es den Staat Bolivien längst noch nicht gab, hütete auf diesem kleinen Hügel ein kleines Indiomädchen, eine cholita, ein paar Schafe. Plötzlich erschien ihr eine leuchtende Gestalt wie aus reinstem Licht. Es war eine wunderschöne Jungfrau. Sie sprach kein Wort, sondern schaute sie nur an. Das Hirtenmädchen erschrak gewaltig, rannte davon und schrie aus Leibeskräften auf Quechua «urqupiña, urqupiña», was etwa «da drüben auf dem Felsen» bedeutet und den zukünftigen Namen dieses magischen Orts bestimmen sollte. Da auf Quechua das q ungefähr wie c ausgesprochen wird, entstand eine Mischung aus Quechua und Spanisch und der Wallfahrtsort hiess fortan «Urcupiña». Die Bezeichnung «Felsen» des verängstigten kleinen Hirtenmädchens war völlig zutreffend, denn der Hügel ist tatsächlich kahl und felsig.

Von dort hat man in Richtung Norden einen guten Ausblick auf Quillacollo, das früher ein kleines Dorf war, heute aber eine Stadt mit über 130’000 Einwohnern ist. Im Hintergrund ist das mächtige Massiv des Tunari-Gebirges zu sehen, dessen höchste Gipfel über 5000 Meter hoch und auch im Sommer schneebedeckt sind. Die Flanke, die sich vom Tal hochzieht, ist grün und fruchtbar, denn sie ist reich mit Quellwasser gesegnet. Richtung Süden dagegen erstrecken sich trockene Hügel, wo nur einige dornige Büsche und Kakteen wachsen. Dort standen einst Tausende von qolqas, Lagertürmen, in denen während der Zeit der Inka Lebensmittel, vor allem jedoch Mais aufbewahrt wurde. Das Tal, in dem heute Quillacollo und Cochabamba liegen, war damals die Kornkammer des südlichen Inkareichs und für die Versorgung der Militärgarnisonen im wüstenhaften Norden von Chile und Argentinien von strategischer Bedeutung. Der östliche Talausgang bei Quillacollo wurde von einer Festung bewacht, deren Überreste heute noch zu sehen sind.

«Quillacollo kommt aus dem Quechua und bedeutet Mondhügel», erkläre ich meinen Besuchern, einer Gruppe von Frauen aus der Kirchengemeinde St. Konrad in Mannheim. Sie und der Missio-Eine-Welt-Kreis von St. Konrad unterstützen die Arbeit von Tres Soles von Anfang an und sind über viele, viele Jahre die eigentlichen Träger des Projekts geworden. Es war für Guisela und mich eine besondere Ehre, ihnen Tres Soles und die Umgebung von Quillacollo zeigen zu dürfen.

«Vermutlich hat hier auf dem Hügel einmal ein Tempel gestanden, der der Mondgöttin gewidmet war, deshalb der Name Mondhügel», führe ich weiter aus.

«Sie ist in der Andenmythologie die Schwester und Frau des Sonnengottes. Nach einer anderen Theorie könnte der Name auch aus der Aymara-Sprache stammen, abgeleitet von qella kollu, was «Aschehügel» bedeutet. Die Farbe des Hügels war offensichtlich der Grund für diese Bezeichnung. Wenn man am Wallfahrtstag, dem 14. August, hierherkommt, muss man einige Brocken Gestein aus dem Felsen schlagen, das ist Tradition.»

«Eine heidnische Tradition?» fragte eine der Besucherinnen aus Mannheim.

«Du kannst es nennen, wie du willst … viele Bräuche aus der vorkolumbischen Zeit mussten von der katholischen Kirche akzeptiert werden, weil sie trotz der Inquisition nicht ausgerottet werden konnten. Daraus ist das entstanden, was man als Andenkatholizismus bezeichnen kann, eine Mischung aus christlichen und einheimischen Bräuchen.»

«Und was macht man anschliessend mit den Steinen, die man herausgebrochen hat?»

Ich erkläre ihnen, dass es an einem solchen Wallfahrtstag auf diesem Hügel nur so von yatiris, den besagten Andenpriestern, wimmelt, die hinter ihren improvisierten Altären sitzen und nicht nur diese Steine segnen, sondern auch die Miniaturen, die man am Eingang erstehen kann.

«Und was sagt die Kirchenleitung dazu?», fragt Magda Keller, die Vorsitzende des Missio-Eine-Welt-Kreis und in Unterstützerkreisen als «Frau Tres Soles» bekannt. «Immerhin gehört das Gelände der Kirche, oder …?»

«Warum wirft der Pfarrer sie nicht einfach raus?», wundert sich eine andere Besucherin.

«Das ist kaum möglich, denn am 14. August kommen über eine Million Pilger aus ganz Bolivien und aus den Nachbarländern hierhergereist.»

«Und was macht man mit den gesegneten Steinen und auch erstandenen Miniaturen, wenn man wieder zu Hause ist?», lautet eine weitere Frage.

«Tja, dann muss man fest an die Erfüllung seiner Wünsche glauben und hart arbeiten, damit sie Wirklichkeit werden. Hat man das erreicht, oft erst nach vielen Jahren oder sogar Jahrzehnten, muss man die Steine wieder zurückbringen und sich bei der Jungfrau von Urcupiña - und zwar bei dem Original in der Kathedrale von Quillacollo - bedanken.»

«Das ist wirklich eine unglaubliche Geschichte. Für die Erfüllung des Wunsches benötigt man also den Andenpriester und den Dank dafür richtet man an die Jungfrau!», bekomme ich prompt zur Antwort.

«Vereinfacht ausgedrückt ist es so … Ihr solltet jedoch mal sehen, was hier im August los ist. Nicht nur der Glauben der Menschen, auch die Festivitäten hier sind wirklich aussergewöhnlich. Stellt euch eine Million Pilger vor und Tausende von Tänzern, die die Feierlichkeiten mit Volkstänzen eröffnen.

Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie wir 1998 unser Haus hier in Quillacollo gebaut haben. Am Wallfahrtstag ist Guisela mit einigen Jugendlichen losgezogen, um Steine aus dem Felsen zu klopfen und ein Miniaturhäuschen zu kaufen und es weihen zu lassen. Sie sind in aller Herrgottsfrühe morgens um vier Uhr losgezogen, denn sie wollten unter den Ersten sein. Den grössten der Steine haben die Jugendlichen in die Grundmauern unseres Gebäudes eingemauert.

Ja, Urcupiña ist ein absolut beeindruckendes Fest; davon können auch die Freiwilligen aus Europa erzählen, die uns Jahr für Jahr bei unserer Arbeit hier vor Ort unterstützen; nur schade, dass immer so viel Alkohol fliessen muss und die sanitären Anlagen dem nicht gewachsen sind.»

STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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