Eine Partei für alle

  24.09.2021 Leserbeitrag

Der Wahlkampf in Deutschland geht in die heisse Phase. Je nach Sichtweise kämpfen zwei oder drei Parteien (CDU, SPD und Grüne) um die Kanzlerschaft. Zuvor hat Angela Merkel (CDU) das Land für uns fast unvorstellbare 16 Jahre lang regiert.

Der Wahlkampf ist dabei einigermassen unterhaltsam: Skandale erschüttern jeden der drei Kandidaten Baerbock, Laschet und Scholz. Es sei eine Wahl zwischen Not und Elend, hört man zuweilen aus unserem nördlichen Nachbarland. Was aus der Schweiz (mindestens von mir) mit einem gewissen Amüsement betrachtet wird, führt in Deutschland offenbar zu noch mehr Politikverdrossenheit. Es ist darum nicht auszuschliessen, dass die pünktlich auf die Wahlen veröffentlichten Skandale (Baerbock, Scholz) oder ein Lachen zum falschen Moment (Laschet) tatsächlich das Zünglein an der Waage spielen, wenn es darum geht, zu bestimmen, wer die nächsten Jahre Deutschland regieren soll.

Was mindestens im Ausland (also auch bei uns) oft vergessen geht, ist, dass die Kanzlerin eigentlich gar nicht direkt gewählt wird. Wie der Schweizer Bundesrat wird die höchste Position im Land vom Parlament bestimmt. Die Mehrheitsverhältnisse im Parlament und die entsprechenden Koalitionen der Parteien bestimmen also, wer das Land für mindestens vier Jahre lenkt. Ich erspare Ihnen die Einzelheiten des politischen Systems in Deutschland. Wichtig finde ich aber die Erkenntnis: Eigentlich sind es nicht die Skandale von Kanzlerkandidatinnen, sondern die Inhalte der Parteien, die den Wahlkampf bestimmen sollten. Auch darüber mokiert man sich in Deutschland des Öfteren, vor allem wenn es um die seit 16 Jahren regierende CDU geht. Sie habe keine Inhalte, über die sich die Partei profiliere, heisst es in den Kommentarspalten.

Und das überrascht mich immer wieder einigermassen. Bei den letzten Bundestagswahlen hat die CDU/CSU 32,9 Prozent der Wählerstimmen geholt. Kein schlechter Wert für eine Partei ohne Inhalte. Ich denke, dass hier eine subtile Verschiebung der Erwartungen stattgefunden hat: Heute erwartet man klare Bekenntnisse zu spezifischen Themen. Die CDU ist aber nicht mit konkreten Bekenntnissen zu solchen Themen gross geworden, sondern mit einem Weltbild, das den Hintergrund ihrer Politik bildet. Die CDU ist eine der letzten verbliebenen wahren Volksparteien in Mitteleuropa.

Staatstragend ist dabei das Zauberwort. Sie ist vielleicht vergleichbar mit einer (ganz) frühen FDP in der Schweiz oder der CVP für die katholische Minderheit in der Schweiz: Man wählt nicht wegen der kurzfristigen Position der Partei zu einem aktuellen Thema, sondern wegen einer grundsätzlichen Wertehaltung der Partei.

Aus meiner Sicht ist das gerade im politischen System Deutschlands deutlich sinnvoller: In vier Jahren werden sich unweigerlich neue Politikfelder auftun, zu denen die Parteien unmöglich schon im Voraus eine Position beziehen können. Und anders als in der Schweiz können die Entscheide der Politiker ja auch nicht einfach per Volksentscheid rückgängig gemacht werden.

Würde man sich im Wahlkampf in Deutschland mehr darum kümmern, welche grossen Linien die Parteien verfolgen, würde der Wahlkampf zwar für den Beobachter aus der Schweiz weniger amüsant, aber inhaltsreicher. Denn was erstaunlicherweise in Deutschland fast kein Thema ist, interessiert mich brennend: Das C in CDU steht für christlich. Und wie dieser Begriff in der heutigen Zeit interpretiert wird, bleibt auch in diesem Wahlkampf ungeklärt. [email protected]


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote