In Kampagnen ist eine Portion Oberländer Pragmatismus ganz praktisch

  21.09.2021 Interview

Die nächsten nationalen Abstimmungen stehen an. Was für die Mehrheit bedeutet, für ein Ja oder Nein bei der Abstimmungsfrage zu stimmen, heisst für Campaigner/innen monatelange intensive Arbeit. Eine solche Campaignerin ist die Gstaaderin Nicole Werren. Wir haben Sie zum Gespräch getroffen.

KERSTIN BÜTSCHI

Nicole Werren, wie wurden Sie Campaignerin?
Durch mein Studium der Soziologie, bei welchem keine konkrete Stellenbeschreibung wie bei Ärztinnen/Ärzten oder Juristinnen/Juristen herausschaut. Kampagnenjobs sind irgendwie auf solche Studiengänge ausgelegt. Zudem war Politikwissenschaft ein Thema in meinem Studium und die Parteienlandschaft und NGOs interessieren mich. Momentan sind Semesterferien an der Uni und so hatte ich drei freie Monate, in denen ich etwas Sinnvolles arbeiten wollte. Bei der Kampagne «Ehe für alle» begeistert mich das Thema.

Wollten Sie also schon immer für eine politische Kampagne arbeiten?
Überhaupt nicht! Meine Interessen sind sehr vielfältig und ich hatte nie einen Traumberuf. Ich habe immer die «Breite» gesucht. Vom Studium her dachte ich lange, es werde eher in Richtung Umweltschutz gehen, was es in Zukunft dann gut auch gehen kann.

Was hat Sie schlussendlich zur aktuellen Kampagne gebracht?
Zum einen natürlich das Thema, denn eine Kampagne ist und muss eine Herzensangelegenheit sein. Dann hatte ich das Gefühl, dass genau ich die Person war, die gesucht wird. Ich bin im Berner Oberland aufgewachsen und kenne dadurch die Oberländer Mentalität, aber ich habe auch das Leben und die Ansichten in der Stadt in den letzten sechs Jahren kennengelernt. Das sind Kompetenzen, die niemand einfach so lernen kann. Mit der Verantwortung für den Kanton Bern und die Zentralschweiz kann ich diese Kompetenz sehr gut brauchen.

Sie haben von Kompetenzen gesprochen. Wen braucht ein gutes Kampagnenteam?
In unserem Team sind Medienleute, Spezialistinnen/Spezialisten für die sozialen Medien, Leute, die sich um die administrativen Aufgaben wie Buchhaltung oder Material kümmern, und dann jene, die für die Mobilisierung in den Regionen zuständig sind. Alles Profis in ihrem Feld, damit wir möglichst viele Arbeiten selbst erledigen können. Nur das Druckmaterial wird extern von einer Grafikagentur gemacht. Und nicht zu vergessen sind die zahlreichen Freiwilligen. Alleine in den Regionen, die ich betreue, sind es rund 500 Freiwillige – eine gewisse Portion Oberländer Pragmatismus ist da manchmal ganz praktisch.

Wann beginnt eine politische Kampagne?
Im Fall der «Ehe für alle» wurde vor rund anderthalb Jahren eine Person angestellt, um auf alles vorbereitet zu sein. Ende April kam das Referendum zustande und dann ging alles schnell. Kaum hatte meine Anstellung im Juni begonnen, mussten wir schon mit allen Arbeiten beginnen. Wir hatten drei Wochen Zeit, um an 29 Orten in der Schweiz Kick-off-Veranstaltungen zu organisieren.

Wie können wir uns die Vorbereitungen für eine Kampagne vorstellen?
Wir hatten, wie gesagt, nur eine kurze Vorbereitungszeit. Wir haben im Team die Schweiz in Regionen aufgeteilt, die wichtigen Zeitpunkte der Abstimmungskampagne definiert, Kommunikationskanäle eröffnet sowie die ersten Freiwilligen rekrutiert und mit den ersten öffentlichen Aktionen begonnen.

Geben Sie uns einen Einblick in Ihre täglichen Arbeiten.
Ich verantworte die Kampagne für den Kanton Bern und die Zentralschweiz und koordiniere die Freiwilligen und Anlässe. Das heisst konkret: Ich schaffe einen Rahmen, damit die Freiwilligen ihre Ideen umsetzten können. Ich stelle also eine Art Scharnier zwischen ihnen und der Kampagne dar. Dann geht es natürlich darum, Treffen zu organisieren, an Veranstaltungen teilzunehmen und für die Medien präsent zu sein, aktiv Networking zu betreiben, sich mit den politischen Parteien und NGOs abzusprechen, um Aktionen zu koordinieren, Probleme zu klären, Material zu organisieren und zu versenden. Es ist eine sehr vielfältige Arbeit.

Das hört sich aber auch herausfordernd an.
Ja, eine Kampagne ist per se extrem komplex. Herausfordernd ist zu sehen, was effizient ist und der Sache der Kampagne dient. Da die Freiwilligen die Aktionen umsetzten, ist es wichtig, dass ihnen die Freude nicht genommen wird, sondern sie motiviert bleiben. Dazu sind die Anlässe aber perfekt. Wir haben beispielsweise in Langnau ein Alphornkonzert organisiert, das zwar viel Organisationsaufwand gab, aber dann eine fantastische Veranstaltung war! Es ist schön, bei dieser Arbeit direkt zu sehen, dass etwas Gutes dabei rauskommt.

Die Arbeit mit Freiwilligen hört sich nicht nach einem «9 to 5»-Job an.
Genau. Freiwillige haben oftmals über den Mittag oder am Abend Zeit und da wir uns über Telegram organisieren, bin ich durchgehend erreichbar und gefühlt 24/7 am Handy. Man sagt, man macht einmal im Leben eine Kampagne. Das verstehe ich jetzt, denn es kostet viel Energie. Nichtsdestotrotz gibt mir diese Arbeit auch viel Energie zurück. Aber ich freue mich auch wieder, wenn ich mein Handy in Ruhe weglegen und zum Beispiel in den Bergen wortwörtlich abschalten kann.

Ein gutes Kampagnenteam und Freiwillige sind unabdingbar. Was braucht es sonst noch für eine erfolgreiche Kampagne?
Die breite Unterstützung in der Bevölkerung. Wir merken, dass uns ein grosser Teil der Gesellschaft wohlgesinnt ist. Jetzt geht es darum, diese Leute auch wirklich zum Abstimmen zu bringen. Nichtsdestotrotz müssen wir mit Gegnerinnen/Gegner im Gespräch bleiben und unsere Argumente aufzeigen. Zudem ist es wichtig, Präsenz zu zeigen, ohne zu nerven. Und natürlich Geld.

Wie kommt eine politische Kampagne zu Geld?
Bei uns zum einen durch die Beiträge der Trägervereine, zum anderen durch Spenden. Wir haben seit Beginn der Kampagne extrem viele Spenden erhalten, davon vor allem Kleinspenden im Rahmen von 10 bis 20 Franken. Es freut mich sehr, dass wir täglich neue Spenden erhalten und mit diesen Beiträgen direkt arbeiten können.

Über welches Budget sprechen wir in etwa?
Wir konnten mit einem Kampagnenbudget von 1,5 Millionen Franken arbeiten. Wir führen eine grosse nationale Kampagne, die vergleichbar ist mit jener der Konzernverantwortungsinitiative. Das zeigt sich zum Beispiel gut daran, dass wir pro Tag zwischen 60 bis 120 Bestellungen für Material erhalten.

Wir haben jetzt über begünstigende Elemente für eine Kampagne gesprochen. Welches sind die erschwerenden?
Erschwerend sind oftmals banale Sachen wie der Erhalt einer Bewilligung zum Flyern oder für Veranstaltungen, Lieferengpässe des Materials oder diverse kleinere administrativen Arbeiten.

Hatte da die Corona-Pandemie spürbaren Einfluss?
Nicht wirklich. Bei den Bewilligungen ging es beispielsweise mehr darum, dass die Stadt Bern keine Veranstaltungen am Sonntag bewilligt oder in ländlichen Regionen keine Konzepte für Flyeraktionen bestehen. Im persönlichen Gespräch lässt sich da jedoch oftmals eine pragmatische Lösung finden. Für den Abstimmungssonntag würden wir gerne ein grösseres Fest als Dankeschön für die zahlreichen Freiwilligen machen, aber das wird wegen der Pandemie leider unmöglich sein.

Die letzten zwei Woche in diesem Abstimmungskampf sind angebrochen. Was steht bei Ihnen nun noch an?
Im Endspurt stehen noch die Organisation und Betreuung der letzten Diskussionsanlässe, Stand- und Flyeraktionen an. Es geht darum, die Menschen für den Gang an die Urne zu motivieren.

Sie werden möglicherweise nicht die einzige Campaignerin aus dem Saanenland bleiben. Können Sie zum Schluss unserer Leserschaft und Interessierten sagen, welche Eigenschaften ein/e Campaigner/in braucht?
Grundsätzlich kann jede Person in einer Kampagne mitarbeiten, denn es braucht Menschen, die anpacken und Arbeit sehen. Dann helfen gute Kommunikationsfähigkeiten, ein Gespür für die Menschen, selbstständiges Arbeiten, Kenntnisse über die Schweizer Politik und zu guter Letzt natürlich Begeisterung für das Thema.


ZUR PERSON

Nicole Werren, 1996, ist in Gstaad aufgewachsen und absolvierte die Matura am Gymnasium Gstaad. An der Universität Bern schloss sie einen Bachelor in Sozialwissenschaften, Psychologie und Nachhaltiger Entwicklung ab und studiert nun im Master Soziologie. Neben dem Studium arbeitet sie als Parteisekretärin bei der Grünen Freien Liste Stadt Bern und aktuell für die Kampagne «Ehe für alle». Als Ausgleich zum Leben in der Stadt ist sie oft zu Fuss oder auf den Ski in den Bergen des Saanenlands unterwegs.

KERSTIN BÜTSCHI


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